Und das Sofa steht in der Garage

Da wächst etwas heran: Wie junge Londoner Architekten und Berliner Senioren gemeinsam das Wohnen von Morgen entwerfen. Eine Ausstellung in Berlin zeigt ihre Modelle. Von Tobias Timm,  Quelle Zeit.de, 19.10.2015.

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Die Ausstellung “Wohnungsfrage” läuft vom 23. Oktober bis 14. Dezember im Berliner Haus der Kulturen der Welt. Die Akademie zum Thema findet vom 22. bis 23. Oktober statt; www.hkw.de/wohnungsfrage

Die Zukunft des Wohnens, sie wird in Pankow erdacht, ausgerechnet in einem Freizeitheim für Senioren. Das Heim in der Stillen Straße sieht recht unscheinbar aus, 1927 erbaut, grau verputzt, gepflegter Garten. Pankow ist – wie fast alle anderen Viertel von Berlin –

sehr beliebt geworden, allein in den vergangenen sechs Jahren sind die Warmmieten um dreißig Prozent gestiegen. Nicht mehr nur in München oder Hamburg, sondern auch hier suchen nun viele verzweifelt nach günstigem Wohnraum – und die Politik hat das inzwischen sogar erkannt. Nicht erst seit den neuesten Flüchtlingsbewegungen steht fest: Es soll wieder Sozialwohnungen geben!

Doch wie werden sie aussehen? Immer mehr klotzige Mietskasernen, wie sie vielerorts noch in den achtziger Jahren errichtet wurden? Darf die Immobilienwirtschaft, die nicht einmal bei Luxuswohnungen auf neue, sinnvolle und schöne Ideen kommt, beim Bau von günstigen Wohnungen einfach so trostlos weitermachen wie bisher?

Diese Frage hat man im Seniorenfreizeitheim in Pankow beackert. Es ist eine recht
ungewöhnlich zusammengewürfelte, inzwischen aber gut eingespielte Gruppe von
Zukunftsforschern, die sich hier in den vergangenen Monaten die Köpfe heiß diskutierte.
Und die sich auf ein Experiment einließ, das man sich kaum exotischer vorstellen kann.

Hausgemeinschaften, die mit ihren Bewohnern wachsen, aber auch wieder schrumpfen können

Zu den Senioren, die sich in der Stillen Straße normalerweise zum Schachspielen oder Singen treffen, kamen Leute vom Berliner Haus der Kulturen der Welt und vor allem eine Delegation des Architekturkollektivs Assemble aus London. Da trafen ältere Damen mit adretten, ins Lila changierenden Kurzhaarfrisuren auf die hippe Avantgarde des internationalen Bauens. Und obwohl manche anfangs dachten, die beiden Welten würde sich gewiss nichts zu sagen haben, kam am Ende etwas heraus, was Furore machen könnte: eine Hausgemeinschaft mit wundersamen Wohnungen, die mit ihren Bewohnern wachsen, aber auch wieder schrumpfen können.

Von Ende Oktober an wird man ein Modell dieser von Assemble und der Stillen Straße ausgeheckten Bleibe in der Ausstellung Wohnungsfrage in Berlin besichtigen können. Aus Holz im Maßstab eins zu eins gebaut, mit Waschbecken und Klosett, komplett begehbar. Dieses Modell, so hoffen die Ausstellungsmacher, könnte wie ein kleiner Sprengsatz in der Diskussion um Wohnungsnot und Gentrifizierung wirken. Zusammen mit drei anderen für die Ausstellung entworfenen Modellen, die sich Architekturbüros aus Tokio, Brüssel und San Diego mit weiteren Berliner Initiativen wie der Gruppe Kotti & Co ausgedacht haben, könnte es die Baupolitik ordentlich durchrütteln. Günstige, große Häuser für die Massen müssen, das beweisen die Modelle, keine starren Betonburgen mit den immer gleichen Grundrissen sein. Wenn man nur die zukünftigen Bewohner in die Planung einbezieht, entstehen ganz ungeahnte, pragmatische Lösungen.

Übrigens war es kein Zufall, dass die Londoner Architekten von Assemble auf die resoluten Senioren in der Stillen Straßen trafen. Ausgedacht haben sich dieses Experiment die Architekten und Kuratoren Jesko Fezer, Nikolaus Hirsch, Wilfried Kühn und Hila Peleg. Parallel zu der Ausstellung werden sie jetzt auch eine Akademie zur Wohnungsfrage veranstalten und eine ganze Reihe von Büchern publizieren. Immer weniger Menschen, prangern sie an, könnten selbstbestimmt über bezahlbaren Wohnraum verfügen. Das soll sich jetzt ändern.

Seit zwei Jahren haben sie an dem Programm der Ausstellung gearbeitet, haben zu alten Antworten auf die Wohnungsfrage geforscht und dann über die Zukunft nachgedacht. Sie wollten nicht schon wieder die hierzulande allseits bekannten Architekten und Theoretiker beauftragen, neue Konzepte des Wohnens vorzustellen. So entstand die Idee, Berliner Initiativen und Aktivisten, die sich schon seit Jahren auf lokaler Ebene mit den Themen Verdrängung, Mieterhöhung und Verlust des öffentlichen Raums beschäftigen, zu Auftraggebern zu machen. Und zwar von besonders experimentierfreudigen Architekturbüros aus dem Ausland. So kamen dann auch Doris Syrbe, Eveline Lämmer, Elli Pommerenke, Hermann Hering und Brigitte und Peter Klotsche aus Pankow ins Spiel.

Die meisten von ihnen haben eine eigene Wohnung, in der sie sich wohlfühlen, das ist eigentlich nicht ihr Problem. Zu bundesweiter, ja sogar globaler Bekanntheit war ihre Gruppe gelangt, als die ansonsten sehr unanarchisch anmutenden Senioren 2012 für den Erhalt ihres Freizeitheims protestierten. Sehr akkurat und mit Sinn fürs Typografische bemalten sie Transparente und protestierten in der Bezirksverordnetenversammlung. Als das Bezirksamt schließlich die Rückgabe aller Schlüssel für das Haus verlangte, besetzten am 24. Juni 2012 gut vierzig in karierte Kurzarmhemden gekleidete und mit Campingliegen bewaffnete Senioren ihren Freizeittreff. “Und zwar richtig”, erzählt Doris Syrbe vom Vorstand der Stillen Straße stolz, “mit Übernachten in Schichten, 112 Tage und Nächte lang.”

Gruppenfotos von damals zeigen die wohl unwahrscheinlichste Hausbesetzertruppe, die es in Deutschland je gab. Trotz ihres Alters sehen die Menschen auf diesen Fotos sehr jung aus, sie blicken verwegen, sie lachen. Nach knapp vier Monaten Besetzung gab der Bezirksausschuss nach, nun verwalten die ehemaligen Besetzer ihr Heim selbst.

Die Besetzungsaktion war ein gemeinschafts-, sinn- und glücksstiftendes Moment, das sieht man Doris, Brigitte und Peter jetzt noch an, wenn sie davon erzählen. Und es ist genau dieses Moment, das auch Maria Lisogorskaya und Lewis Jones, die jungen Architekten aus London, so ungemein beeindruckt hat. Wie kann man aber, das fragen sie sich, ein solches Gemeinschaftsgefühl auch bei einem Neubau stiften?

Wände aus unzähligen, von Freiwilligen an langen Leinen aufgezogenen Holzklötzen

Das Londoner Kollektiv ist auf partizipatives Entwerfen und Bauen spezialisiert. Aus einer leer stehenden Tankstelle an der Clerkenwell Road haben sie mit einfachsten Mitteln ein Nachbarschaftskino gebaut. Und unter einer Stadtautobahnbrücke in Hackney Wick ein temporäres Veranstaltungszentrum errichtet, dessen Wände aus unzähligen, von vielen Freiwilligen an langen Leinen aufgezogenen Holzklötzen bestand.

Seit Februar dieses Jahres haben sich Lisogorskaya und Jones mehrere Male mit den Ex-Hausbesetzern getroffen und sie ausgiebig nach ihren Vorstellungen in Wohnungsdingen befragt. Die äußerten recht einfach nachvollziehbare und weit verbreitete Wünsche, auf die viele Architekten in der Vergangenheit dennoch viel zu selten Acht gegeben hatten: Die Senioren wünschten sich ein Haus, in dem jede Partei ihre Privatheit leben, aber bei Bedarf mit den Nachbarn auch in Gemeinschaftsräumen aktiv werden kann. Es sollte ein Haus entstehen, in dem sich die Generationen mischen und Bewohner nicht umziehen müssen, wenn sich ihre Lebensverhältnisse ändern – durch die Geburt eines Kindes, den Tod eines Partners etwa. Häuser mit Gemeinschaftsräumen also und Wohnungen, die sich ohne Schwellen flexibel vergrößern oder verkleinern lassen.

Wie echte Feldforscher besuchten die Londoner auch einige der Senioren zu Hause und fanden zwischen Kristalllüstern und dickleibigen Couchgarnituren heraus, wie wichtig diesen Menschen die ganz eigene Gestaltung ihrer Heime ist, weit über das normale Maß der Möblierung hinaus. Manche von ihnen haben Mietwohnungen in jahrzehntelanger Kleinarbeit komplett umgebaut, haben Wände durchbrochen und backsteinverzierte Bögen eingezogen. Eine Art der Aneignung, die in der DDR durchaus Tradition hatte.

Nicht nur die Worte werden übersetzt, sondern auch der kulturelle Hintergrund

Die Berliner Senioren waren zunächst skeptisch, ob sie von den Architekten richtig verstanden würden. Nicht nur der Sprache wegen: Bei den Treffen in der Stillen Straße übersetzte oft Jesko Fezer, einer der Kuratoren des Projekts. Wobei Fezer nicht einfach nur die Worte vom Deutschen ins Englische oder zurück überträgt, sondern immer auch den kulturellen Hintergrund des Gesagten einordnet.

Fezer, Jahrgang 1970, betreibt mit Kollegen ein Architekturbüro in Berlin und mit anderen Freunden Pro qm, eine der interessantesten Buchhandlungen der Republik, thematisch auf Stadt, Politik und Architektur spezialisiert. Seit 2011 ist er zudem Professor für Experimentelles Design an der Hochschule für bildende Künste Hamburg, und er hat beim jahrzehntelangen Arbeiten und Forschen in ganz großen und ziemlich kleinen Gruppen gelernt, wie man unnötiges Gequatsche abbindet, Konflikte positiv in Aktionen umsetzt, aus lustig wuchernden Ideen am Ende auch Zeitschriften, Bücher, Ausstellungen oder gleich Häuser wachsen lässt.

So richtig verstanden haben die Senioren die britischen Architekten trotz Fezers Übersetzungsleistungen allerdings erst, als eine Delegation aus der Stillen Straße für einige Tage nach London fahren und dortige Projekte von Assemble besichtigen durfte. Das Yardhouse etwa, einen gemeinschaftlich gebauten, extrem günstigen Atelierbau mit einer Fassade aus bunten, selbst gebrannten Kacheln.

So langsam wuchs und gedieh das Vorstellungsvermögen, langsam weitete sich der Horizont, langsam wurde allen Beteiligten klar, wie starr sie oft in gewohnten Mustern denken und handeln. Und so entstand peu à peu die Bereitschaft, sich ein Haus vorzustellen, das es so bislang noch nicht gibt, fantastisch, aber nicht utopisch. Mit ein bisschen gutem Willen ließe es sich in die Wirklichkeit holen, umstandslos und kostengünstig.

Allerdings sehen die ersten Entwurfsskizzen noch wie Wimmelbilder aus Kinderbüchern aus: ein mehrgeschossiger Betonbau, der durchaus an herkömmliche Plattenbauten erinnert. Der Witz an dem Haus ist jedoch, dass der Bauherr nur den Rohbau und die nötigen Leitungen und Anschlüsse bereitstellt. Die Bewohner, so Assemble, kaufen sich zu einem sehr geringen Quadratmeterpreis eine kleine Wohneinheit, die aus Küche, Bad und zwei Zimmern besteht, und bauen diese dann selbst aus – was die gesamte Unternehmung nicht nur billig macht, sondern auch dafür sorgt, dass die Leute ihre eigenen Vorstellungen vom guten Wohnen ausleben können.

Die Garage wird wahlweise zum Wohnzimmer, zum Laden oder zum Atelier

In der gemeinsamen Ausbau- und Bezugsphase, die, so der Traum der Architekten, ähnlich gemeinschaftsstiftend sein soll wie die Seniorenbesetzung von einst, wird für die nötigen Arbeiten auf der gesamten Fläche des Erdgeschosses eine Werkstatt eingerichtet. Später dann könnten die Flächen der Werkstatt zugunsten von Kita-Räumen, einer Kantine, Praxen oder Läden verwendet werden.

Zusätzlich zum Kauf der kleinen Wohneinheit können die Bewohner gleich neben ihrer Wohnung noch einen ebenso großen Raum hinzumieten und so ihre Wohnfläche verdoppeln, wenn sie es wollen: Assemble nennt diesen Raum “die Garage”. Die Garage kann man durch eine riesige Falttür zum Korridor öffnen, der alle Wohnungen verbindet und zugleich wie ein Wintergarten funktioniert. Während in der Wohneinheit der Grundriss relativ starr ist – Küche, Bad, Schlaf- und Wohnzimmer –, können die Wohnparteien in der Garage vieles frei variieren: Sie können sie als großes Wohnzimmer, als offenen Laden, als Büro, Praxis, Atelier oder gemeinschaftliches Gymnastikstudio einrichten, sie bei Bedarf in zusätzliche Kinderzimmer aufteilen – oder an einen Nachbarn weitervermieten.

Die Garage ist der “slack space”, der den Bewohnern neue Freiheiten geben soll, mit dem sie ihre Wohnung wachsen lassen können – und den sie genauso einfach wieder abstoßen werden, wenn sie ihn nicht mehr brauchen.

Es soll endlich verbunden sein, was so lange getrennt gedacht wurde

Ein wenig skeptisch sind die Senioren noch, ob ihnen das Modell, das sie doch selbst mitentwickelt haben, wirklich gefällt. Die Mischung aus Wohneigentum und Miete ist schließlich vollkommen neu, die meisten von ihnen sind in der DDR aufgewachsen und waren ihr Leben lang Mieter, sie misstrauen dem Eigentum. Was wiederum die Architekten aus London erstaunt, ist es doch in Großbritannien weitaus üblicher und auch allgemein angestrebt, dass man sein Heim kauft, statt es zu mieten. Das Eigentum, erklärten die Architekten ihren Auftraggebern, soll für eine starke Bindung sorgen. Die Garage hingegen bliebe im Besitz der Genossenschaft oder Wohnungsbaugesellschaft, die auch den Rohbau errichtet hat. So wäre endlich verbunden, was so lange getrennt gedacht wurde: das Individuelle und das Kollektive, das Private und das Gemeinschaftliche.

Wird dieses Haus irgendwann auch aus Beton gebaut werden? Oder bleibt es ein Denkmodell?

Die Senioren aus der Stillen Straße jedenfalls scheinen recht tatendurstig, eine von ihnen hat bereits erste Kontakte zu einem möglichen Bauträger geknüpft. “Das ist alles Zukunftsmusik”, sagt sie, “aber man muss es ausprobieren.”

“Wohnungsfrage” läuft vom 23. Oktober bis 14. Dezember im Berliner Haus der Kulturen der Welt. Die Akademie zum Thema findet vom 22. bis 23. Oktober statt; www.hkw.de/wohnungsfrage