Die neuen Heimarbeiter: Wir machen’s uns selbst

Von Christian Sywottek

Hier wird der Konsument zum Fabrikanten: Sogenannte Offene Werkstätten zeigen, wie die industrielle Produktion der Zukunft aussehen kann – dezentraler, nachhaltiger, demokratischer. Ein Beitrag aus dem Wirtschaftsmagazin “enorm”.

MiniRig-Werkstatt in München: Erfinder Brenneis (links) und Meyer(blaues Shirt)
MiniRig-Werkstatt in München: Erfinder Brenneis (links) und Meyer(blaues Shirt)

 

“Dafür, dass wir eigentlich keine Ahnung hatten, ist das eine Leistung”, sagt Christian Meyer. “Wir haben ein konkurrenzfähiges Produkt.” Thomas Brenneis nickt: “Da kannst du draufschlagen, da wackelt nichts. Wir können stolz sein auf das, was da steht.”

Was da steht auf dem grauen Tisch in der Münchner Werkstatt, ist eine Kamerahalterung, die die beiden MiniRig getauft haben. Ein luftiges Gebilde aus schwarzem Aluminium, 150 Teile, knapp drei Kilogramm schwer, etwas kleiner als eine Bierkiste. In die Halterung kann man zwei Minikameras im rechten Winkel zueinander einhängen, die gleichzeitig aufnehmen und so dreidimensionale Videobilder liefern. Es ist ein außergewöhnlich kompaktes Teil für Profis, marktreif und 17.000 Euro teuer.

“Wir wollen 3-D-Filme in engen Räumen drehen”, sagt Meyer, “in Autos, beim Actionsport. Herkömmliche Rigs sind dafür viel zu groß.” Ein kleines 3-D-Rig aber konnten sie auf dem Markt nicht finden. So haben er und Brenneis es eben selbst gebaut, ein Kamera- und ein Regieassistent. Ohne viel Erfahrung in Entwicklung und Produktion, aber mithilfe einer Werkstatt, die Privatleuten wie ihnen dafür moderne Maschinen zur Verfügung stellt. “Eines ist klar”, sagt Christian Meyer, “ohne das HEI hätten wir keine Chance gehabt.”

Sich vom Diktat der Industrie zu befreien

Das Haus der Eigenarbeit, kurz HEI, ist Deutschlands bekannteste Offene Werkstatt und liegt in einem Hinterhof nahe dem Münchner Ostbahnhof. Insgesamt 520 Quadratmeter, vom Keller bis unters Dach vollgestopft mit Hämmern, Feilen, Sägen, Dreh- und Hobelbänken, Bohrmaschinen, Schweißgeräten. Und einer computergesteuerten Fräse, auf der Meyer und Brenneis sieben Monate lang komplexe Teile für ihren Prototypen herstellten. Ohne einen Fremdfertiger, den sie sich nicht hätten leisten können.

Das HEI ist ein Ort, der es Konsumenten ermöglicht, zu Produzenten zu werden. Und ein Beispiel, das zunehmend Schule macht: Deutschlandweit gründen sich immer neue öffentliche Werkstätten, vor allem seit der Finanzkrise. In den etwa 200 Werkstätten – rund 70 davon organisiert im Verbund Offener Werkstätten – bauen und restaurieren private Enthusiasten Möbel, nähen Kleider, entwickeln Lastenfahrräder, konstruieren Lampen. Und immer mehr wagen sich dank der zunehmenden technischen Aufrüstung der Werkstätten mit 3-D-Druckern, Platinenfräsen und Lasercuttern auch an technisch höchst anspruchsvolle Aufgaben. Sie schaffen für den Eigenbedarf und entwickeln daraus manchmal wie Meyer und Brenneis ein marktfähiges Produkt.

Es könnte sich um nicht weniger als die Demokratisierung der Produktion handeln, die sich in der Lebensmittelbranche mit dem Trend zum eigenen Garten genauso zeigt wie in der Energiewirtschaft, wo ehemals reine Verbraucher ihren Strom zunehmend selbst erzeugen. Jetzt hält dieser Gedanke Einzug in die gegenständliche Produktwelt und eröffnet Chancen, sich auch hier zu befreien vom Diktat der Industrie mit ihren Vorstellungen von Angebot, Qualität und Preis.

“Viele Leute fühlen sich wie Kaufvieh”

Für Tom Hansing, Sprecher des Verbundes Offener Werkstätten, ist diese Renaissance des Selbermachens die logische Folge eines Unbehagens gegenüber einer Ideologie, für die Wachstum über allem steht. Immer kürzere Produktzyklen, das Gefühl, mit absichtlich schnell verschleißenden Waren abgespeist zu werden, die man zudem nicht mehr selbst reparieren kann – “viele Leute fühlen sich wie Kaufvieh”, sagt Hansing. Außerdem wachse generell das Bewusstsein, auch als Einzelner etwas ändern zu können.

Der Preisverfall etwa bei 3-D-Druckern und computergesteuerten Werkzeugmaschinen schafft jetzt Zugang zu ehemals rein industriellen Fertigungsverfahren. Neue Finanzierungswege wie zum Beispiel Crowdfunding erleichtern die Gründung einer eigenen Werkstatt. “Offene Werkstätten sind ein Spiel mit den Möglichkeiten”, sagt Tom Hansing, “und deren Gründer wollen niemanden mit Volksbildung beglücken, sondern Hilfe zur Selbsthilfe bieten, für die eigene Gruppe.” Deshalb seien Offene Werkstätten auch nicht wie früher Anhängsel zum Beispiel von Bürgerzentren, sondern inzwischen selbstverwaltete und eigenfinanzierte Projekte.

Was alle Privatproduzenten eint, ist der Wille zum selbstbestimmten Arbeiten. So wie bei Meyer und Brenneis, die ein Produkt schaffen wollten, das sie dringend brauchten. Und sie beweisen, dass auch Laien zu Profi-Entwicklern aufschließen können, wenn die Bedingungen stimmen. “Entscheidend”, sagt Meyer, “ist der Zugang zur Technik.”

Von der Idee zum Produkt

Denn private Entwickler arbeiten naturgemäß anders als die Profis in Unternehmen. Die Idee zum MiniRig stammt aus Meyers eigenem Kopf, Computer Aided Design (CAD) konnte er sich mithilfe von Open-Source-Software und durch Unterstützung aus User-Groups selbst beibringen. Für den Entwurf des MiniRigs kam er deshalb ohne externe Hilfe aus. Doch schon beim Prototypenbau wäre Schluss gewesen. Zum einen aus Kostengründen: “Ein einziges Verbindungsteil zu fertigen, hätte uns bei einem Dienstleister um die 350 Euro gekostet.” Zum anderen, weil sie als unerfahrene Konstrukteure immer wieder Teile entwarfen, die sich am Ende gar nicht wie gedacht produzieren ließen. “Entwerfen, fräsen, passt nicht, wegwerfen, neue Runde”, beschreibt Meyer das Vorgehen. “Ein Fremdfertiger hätte das nicht mitgemacht.”

Es ist dieser Übergang von der Idee zum Produkt, an dem private Entwickler gewöhnlich scheitern. Im Münchner Haus der Eigenarbeit hingegen hatten Meyer und Brenneis Zugang zu einer selbstgebauten computergestützten Fräse, so simpel konstruiert, dass sie die Maschine nach einem kurzen Einführungskurs selbst bedienen konnten. Sie kauften sich Dauerkarten für je 220 Euro im Monat, so hatten sie jederzeit Zugang und konnten die Zeit zwischen ihren eigentlichen Jobs als Freiberufler optimal nutzen.

Dass ihre Entwicklung wirklich etwas taugt, ist mittlerweile bewiesen. Im August war es beim Wacken-Open-Air im Einsatz, dem größten Metal-Festival der Welt, für einen Kinofilm in 3D. “Ein großartiges Rig”, sagt Filmproduzent Tomas Erhart, “es ist das kleinste auf dem Markt, das wirklich stabile Bilder liefert. Und wir haben viele Rigs ausprobiert.”

Das notwendige Wissen verbreitet sich immer schneller

Meyer, Brenneis und ihr MiniRig – man könnte das als eine der wenigen Ausnahmen abtun, denn bislang stellen Privatfabrikanten kaum so technisch ausgefeilte Produkte her. In dem losen, weltweiten Verbund der Fabrication Laboratories (FabLabs), die sich ausschließlich auf digitale Hightech-Maschinen konzentrieren, experimentieren Forscher derzeit meistens mit den Werkzeugen selbst und modellieren mit 3-D-Druckern Dinge wie Handyschalen, Kühlschrankgriffe, Brillengestelle oder Adapter für ihre Kameras. Und auch im Haus der Eigenarbeit ist das MiniRig – neben einem Solarkraftwerk für zu Hause – die technisch anspruchsvollste Eigenproduktion.

Aber das Beispiel MiniRig zeigt, wozu private Entwickler schon heute imstande sein können – und es ist nur eine Frage der Zeit, bis deutlich mehr Heimproduzenten nachziehen. Zwar sind moderne Fertigungsverfahren bis jetzt vor allem etwas für technikaffine Tüftler. Das dürfte sich mit der Entwicklung benutzerfreundlicher Software in den FabLabs der Universitäten der Welt aber ändern. Auch die Ansprüche an die eigene Arbeit würden den Prozess forcieren, sagt Tom Hansing vom Verbund Offener Werkstätten: “Der selbstgemachte, aber hässliche Aschenbecher reicht nicht mehr. Es geht um gutes Design und darum, dass ein Produkt auch anderen gefällt. Man arbeitet professioneller und auf einem viel höheren Qualitätslevel als früher.” Und das dazu notwendige Wissen verbreitet sich innerhalb der Szene immer schneller – durch internetbasierte gemeinsame Entwicklungsarbeit, durch Web-Plattformen wie Thingiverse zum Teilen von Daten und Bauplänen digital hergestellter Produkte, nicht zuletzt auch durch reisende Anleiter, die Neulinge im Umgang mit Maschinen trainieren oder beim Bau von Siebdruckgeräten und 3-D-Druckern unterstützen.

Was brauche ich wirklich?

Diese Dynamik ist in den Offenen Werkstätten spürbar. Sowohl was die Nutzerzahlen angeht – im Haus der Eigenarbeit zum Beispiel werkelten im vergangenen Jahr 1307 Heimfabrikanten, 2006 waren es noch 1089 – aber auch bei den Arbeitsgebieten. “Vor Jahren haben wir hier noch Stoffe gefärbt und Glasarbeiten angeboten”, sagt Werkstattleiter Rainer Wirth. “Daran besteht kein Interesse mehr.” Heute würden die Leute Sakkos schneidern, ganze Kinderzimmer einrichten und gewerkübergreifend Möbel restaurieren “mit Intarsien und Schellack-Polituren, das erledigt man nicht mal eben nebenher”.

Das seien weit komplexere Produkte als süße Handtäschchen für urbane Mütter in Heimarbeit. “Und wir stellen für niemanden etwas her”, sagt Rainer Wirth, “hier wird für sich selbst gearbeitet.” Auch dadurch entstehe in den Offenen Werkstätten neben handfesten Dingen zusätzlich Wissen – über die eigenen Bedürfnisse, über Techniken und Produkte. Die Arbeit produziert sozusagen Selbstbewusstsein gegenüber industriellen Herstellern und ihren Waren. Und sie wirft bei den Menschen immer öfter die Frage auf: Was brauche ich wirklich?

Insofern können Offene Werkstätten mehr sein als Orte zur Selbstentfaltung. In der dezentralen Produktion, und sei es nur für den Eigenbedarf, sehen Forscher wie Jürgen Bertling vom Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik in Oberhausen zudem einen Pflasterstein auf dem Weg hin zu einer nachhaltigen Wirtschaft. Für den Werkstofftechniker ist die übliche Industrieproduktion schon aufgrund ihres massiven Ressourcenverbrauchs nicht zukunftsfähig. Und zu oft würden grundlos Dinge gekauft, nur weil sie angeboten werden. Der Wandel des Verbrauchers zum Produzenten aber könnte diesen fatalen Kreislauf durchbrechen. “Weil es dann zu bewussteren Konsumentscheidungen kommt”, glaubt Bertling, “und weil es die Reparaturkultur fördert.” Beides würde zu weniger Neuanschaffungen führen.

“Das MiniRig war erst der Anfang”

Auch für Jürgen Bertling ist eine marktrelevante Produktion in öffentlichen Werkstätten kein Hirngespinst. “Ersatzteile für Maschinen und Fahrräder, Kleinteile und individuelle Dinge wie Taschen, Besteck oder Schuhe – warum sollte das nicht klappen?” Er selbst hat in Dortmund das Gemeinschaftslabor Dezentrale gegründet, mit dem er “Bürger zu Miterfindern bei Nachhaltigkeitsinnovationen” machen möchte. Denn Bertling hat erlebt, dass die angeblich Fachfremden gerade von Nutzung und Umnutzung neuer Technologien mitunter mehr verstehen als Forscher wie er. “Da ist ein Wissenspool, den darf man auf keinen Fall unterschätzen.”

Dezentrale Fertigung, von Verbrauchern für Verbraucher – auf lange Sicht ist die Verlagerung der Produktion von industriellen Großstrukturen zurück in die Stadtteile für Jürgen Bertling ein realistisches Szenario. Er kann sich auch vorstellen, dass Offene Werkstätten wichtige Inkubatoren für Start-ups sein können.

So wie es bei Christian Meyer und Thomas Brenneis ist. Die sind mit ihrem MiniRig längst einen Schritt weiter – raus aus dem HEI, hinein in eine eigene Werkstatt. Sie haben sich eine eigene computergestützte Fräse gebaut und ihre eigene Firma gegründet, die 2EyeTec GbR. Fünf MiniRigs wollen sie erstmal verkaufen. Daneben tüfteln sie an weiteren Lösungen für 3-D-Videos, etwa für Flugaufnahmen mit kleinen Quadcoptern. “Das MiniRig”, sagt Christian Meyer, “war erst der Anfang.”

Dieser Text stammt aus dem Magazin “enorm – Wirtschaft für den Menschen”.