Wie werden wir in Zukunft wohnen? Ein Blick nach Zürich zeigt: Auch utopische Wohnformen können wahr werden. Wie etwa auf dem Kalkbreite-Areal, wo seit einem halben Jahr 256 Bewohner zusammenleben. TagesWoche, 22.2.2015, Samanta Siegfried
Erst war es reine Utopie, seit rund einem halben Jahr ist es in Zürich Realität: ein gemeinschaftliches Wohnprojekt im Riesenformat. Keine simple Wohngenossenschaft, sondern eine Wohngesellschaft mit eigenem Gewerbe, eigener Wohnform, eigenen Vorstellungen.
Die Utopie nennen sie in Zürich «Kalki»: die Kurzform des Kalkbreite-Areals im Kreis 4. Dort entstand in den letzten Jahren jene utopische Wohn- und Gewerbegenossenschaft. Im August 2014 ist der Letzte der 256 Bewohner eingezogen.
Von der Tramhaltestelle Kalkbreite führt eine breite Treppe auf den grossflächigen Innenhof. Kreisförmige Kiesbeete, kahle Bäume und ein Kinderspielplatz werden von vierstöckigen Neubauten eingekreist. Darin befinden sich mehrere Gross-WGs, Familien- oder Clusterwohnungen. Letzteres sind Einzelzimmer mit einer kleinen Kochnische, einem Bad und zusätzlichen Gemeinschaftsräumen wie etwa einer Grossküche für die Mietergruppen.
Das Gebäude ist nach dem Minergie-Eco-Standard gebaut, auf dem Dach stehen Fotovoltaik-Anlagen, und statt mit Autos sind die Bewohner ausschliesslich und vorschriftsgemäss mit dem Velo unterwegs. Denn wichtig ist der Genossenschaft Kalkbreite nebst dem Gemeinschaftssinn auch der ökologische Aspekt, orientiert an den Zielen der 2000-Watt-Gesellschaft. Kein Auto zu besitzen, war Voraussetzung für den Einzug.
32 Quadratmeter sind die Norm
Das Konzept der Kalkbreite sei eine Antwort auf grundlegende gesellschaftliche Probleme, sagt der Bewohner Fred Frohofer: 51 Jahre alt, die Haare kurz geschoren, schwarze Jeans, schwarzer Mantel, bunter Schal. Frohofer redet schnell, zuweilen aufgeregt und springt zwischen den Gedanken hin und her. Mit gesellschaftlichen Problemen meine er etwa die Verkehrsbelastung, den damit einhergehenden Ressourcenverbrauch oder die Wohnungsnot.
Letztere ist auch in Basel ein Problem. Ein Faktor: Der einzelne Stadtbewohner beansprucht immer mehr Wohnfläche.
Genau dem wollen die Kalkbreite-Genossenschaftler entgegenwirken. Im Durchschnitt stehen jedem Bewohner 32 Quadratmeter Privatwohnfläche zur Verfügung, weitere 800 Quadratmeter sind für Gemeinschaftsräume reserviert. Und diese könnten unterschiedlicher nicht sein: ein Fitnessraum, ein Meditationsraum, ein Näh- und Bügelzimmer oder eine Sauna gehören etwa dazu. Was in die Räume kommt, handeln die Bewohner jährlich neu aus, und auch sonst werden die Entscheidungen per Konsensverfahren in monatlichen Sitzungen getroffen.
Fred Frohofer hat sich eine der Clusterwohnungen ausgesucht. Sein Zimmer ist mehreckig, die kahlen Betonwände und die schlichte Einrichtung fallen auf: ein Bett, ein Tisch, ein Büchergestell. Von der Fensterfront aus kann er auf die Besucherströme im Innenhof blicken. «Manchmal komme ich mir vor wie im Zoo», sagt er.
Denn Teile der Siedlung sind der Öffentlichkeit zugänglich. Dazu gehören nebst dem Innenhof auch die integrierten Gewerberäume. Etwa ein Geburtshaus, eine Kita, vier Restaurants und Bars, ein Bioladen oder das Kino «Houdini», wo kürzlich ein Brand ausbrach.
Wichtig ist der soziale Mix
Auch das gehört zum Konzept der Genossenschaft: 60 Prozent des Areals sind Wohnbereich, 40 Prozent werden vom Gewerbe beansprucht. Würden die Bewohner auch in der Siedlung arbeiten, müssten sie sich eigentlich nicht mehr vom Fleck bewegen.
Dieser Punkt bringt das Konzept auch in die Kritik. Bereits fiel in Zürich der Spruch von einem «grünen Ghetto», in dem die Menschen abgeschottet vom Rest der Gesellschaft vor sich hin leben.
«Ach, es gibt immer Neider», meint Frohofer dazu. Ausserdem sieht er nichts Schlechtes darin, im Gegenteil: «Alles, was man braucht, ist in Pantoffeldistanz erreichbar. Es ist quasi wie ein Dorf in der Stadt.» So lege man kürzere Wegstrecken zurück, und das heisse eben weniger Ressourcenverbrauch. Zudem verstärke die Verdichtung aller Lebensbereiche das Gemeinschaftsleben.
Aber alle Bewohner in einen Topf werfen, das könne man nicht, sagt Frohofer. Die Genossenschaftler trafen die Auswahl der Bewohner durch eine eigens geschaffene Vermietungskommission aus Leuten, die selber nicht in der Kalkbreite wohnen. Dabei sollten die Mieterinnen und Mieter den Querschnitt der Schweizer Bevölkerung abbilden.
Demnach sei die Zusammensetzung bewusst sozial durchmischt: Junge Studenten, eine eritreische Familie oder auch einkommensschwache Personen haben ihren Platz. Um interne Vermögensunterschiede abzufedern, wurde ein Solidaritätsfonds eingerichtet, der bei Notlagen einen Teil der Miete trägt.
Grundsätzlich sind die Wohnungen jedoch bezahlbar. Ein Zimmer in einer Gross-WG ist ab 600 Franken, eine Clusterwohnung ab 800 Franken zu haben.
Weitere Projekte entstehen
Die Siedlung auf dem Kalkbreite-Areal ist nur eines von mehreren Projekten in Zürich, die auf dem gleichen Grundgedanken fussen. In den letzten zehn Jahren entstanden zum Beispiel verschiedene Siedlungen des Kraftwerk 1 oder das Hunzikerareal, wo bis im Mai 1300 Menschen einziehen sollen.
Auch die Genossenschaft Kalkbreite hat bereits ein weiteres Projekt geplant: Hallenwohnen im Zollhaus. Hier sollen bis zu 27 Personen in einem 600 Quadratmeter grossen Raum mit überdurchschnittlicher Deckenhöhe wohnen.
Fred Frohofer will noch weiter gehen. Er ist im Vorstand des 2009 gegründeten Vereins Neustart Schweiz, der sich für sogenannte multifunktionale Nachbarschaften einsetzt. Diese sind vergleichbar mit dem Kalkbreite-Konzept, nur noch radikaler. Rund 500 Leute leben darin und betreiben eine Infrastruktur zur Deckung des täglichen Bedarfs. So sollen sie etwa über ein Lebensmitteldepot verfügen, in dem Erzeugnisse aus solidarischer Landwirtschaft gelagert werden. «Wie ein Hotelbetrieb, bei dem die Gäste mitarbeiten», erklärt Frohofer.
Mit dem Projekt NeNa1 will der Verein Neustart Schweiz eine solche Nachbarschaft in Zürich schaffen. Während die Initianten bereits eine klare Vorstellung davon besitzen, ist der Standort für die Umsetzung noch nicht entschieden.
War Zürich in dieser Hinsicht bislang noch einsamer Vorreiter, wird bald auch Bern mit der Genossenschaft Warmbächli nachziehen. Auf der ehemaligen Kehrrichtverbrennungsanlage im Holligen-Quartier soll eine Gemeinschaftssiedlung für 250 Personen entstehen.
Nachahmer-Projekte in Basel geplant
Und Basel? Die hiesige Regionalgruppe von Neustart Schweiz will ein ähnliches Projekt wie das NeNa1 realisieren, genannt LeNa. Dabei liebäugelt die dafür gegründete Genossenschaft mit dem Areal des alten Felix-Platter-Spitals, einen Antrag haben sie bereits gestellt. Auch die Klybeck-Genossenschaft hofft darauf, beim BASF-Areal eine Siedlung im Stil der Kalkbreite zu errichten.
Die Projekte haben gute Chancen, verwirklicht zu werden. Die neue Wohnbewegung wird zunehmend ernst genommen und auch von der Politik gutgeheissen. Eine blosse Hippie-Utopie sind die gemeinschaftlichen Wohnformen heute nicht mehr.