Eine nachhaltige Welt erfordert nicht nur grüne, sondern auch soziale Städte. Ein Gespräch mit dem Kultursoziologen Richard Sennett
ZEIT Wissen: Herr Sennett, Sie leben in zwei Städten, New York und London. Welche fühlt sich sozialer an?
Richard Sennett: Definitiv London.
ZEIT Wissen: Warum?
Sennett: Das hat zum Teil mit der Kultur zu tun, zum Teil mit der Form der Stadt. Die New Yorker Kultur ist ziemlich aggressiv. Es ist eine Stadt, in der die Mehrheit der Menschen um alles kämpfen muss. New York hat seit dem Zweiten Weltkrieg nicht viel getan, um den Einwanderern oder den Armen zu helfen. Es ist eine Kultur, die auf Gegensätzen beruht. London ist viel entspannter.
ZEIT Wissen: Woher kommt die aggressive Kultur New Yorks?
Sennett: Es hat dort nie den Wunsch gegeben, die Stadt um Gemeinschaften herum aufzubauen. Die Form der Stadt spiegelt das wider: Sie ist ein Gitter, in dem ein Block auf den anderen folgt, eine Sorte von städtischem Raum, der verkauft, rekonfiguriert oder kombiniert werden kann. London dagegen ist eine Pyramide lokaler Zentren. Es hat viel mehr öffentliche Orte. Das macht die Stadt viel geselliger, finde ich.
ZEIT Wissen: Sie haben einmal gesagt: “Eine Stadt ist keine Maschine.” Nach Ihrer Beschreibung hat New York aber eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Maschine.
Sennett: Ja, es ist eine mechanische Reproduktion von Raum. Unser Planungsrecht in New York sieht öffentlichen Raum vor. Tatsächlich ist es aber leerer Raum vor riesigen Bürogebäuden. Das ist keine Besonderheit von New York, sondern geht schon auf Le Corbusiers Plan Voisin von 1925 zurück …
ZEIT Wissen: … in dem Le Corbusier das Zentrum von Paris abreißen und durch 18 Wolkenkratzer ersetzen wollte. Die Straßen sollten nur dem Verkehr dienen.
Sennett: Sie sehen dieses Denken auch in Shanghai, das die Straße als öffentlichen Raum quasi abgeschafft hat. Solch eine mechanisch reproduzierte öffentliche Sphäre passt zu einer aggressiven Kultur. Was wir in New York nicht haben, sind öffentliche Orte, an denen sich ganz verschiedene Menschen treffen.
ZEIT Wissen: Bei Occupy Wall Street trafen sich ganz verschiedene Menschen im Zuccotti Park. Sie schrieben, das bleibende Vermächtnis dieser Bewegung sei im Wort “Occupy” verkörpert. Inwiefern?
Sennett: Die Occupy-Bewegung ist an einem Ort aufgetaucht, an dem sie nicht vorgesehen war. Sie brauchen eine Erlaubnis der Polizei, wenn Sie sich in New York und London mit mehr als 20 Leuten versammeln wollen. Versammlungsfreiheit ist dort nur schwer zu praktizieren, spontane Zusammenkünfte werden nicht unterstützt. Nach meiner Vorstellung sollten die Menschen lernen, sich gerade an Orten zu treffen, an die sie nicht gehören – weil die Gesetze so repressiv sind. Deshalb bedeutete mir die Occupy-Bewegung so viel. Die Menschen haben einfach einen verbotenen Ort eingenommen.
ZEIT Wissen: Es wird heutzutage immer mehr darüber geredet, Städte nachhaltiger zu machen – auch sozial. Welche Rolle könnte Technologie dabei spielen?
Sennett: Wir könnten die menschliche Intelligenz, ihr Urteilsvermögen durch Technik ersetzen, etwa, indem wir vollständig kontrollieren, wie und wo sich die Menschen bewegen, indem wir ihr Verhalten mit Sensoren und Kameras überwachen. Das ist jedoch kein kluger Gebrauch von Technik. Klug wäre, Technik zur Koordinierung einzusetzen. Rio de Janeiro ist ein Beispiel: Die Stadt hat ein großes Verkehrsproblem. Und sie setzt Technik ein, um Unfälle und Staus zu erkennen. Dieser Ansatz erfordert menschliche Intelligenz – und offene Systeme. Ganz anders in Masdar in den Vereinigten Arabischen Emiraten …
ZEIT Wissen: … einer geplanten autofreien Stadt, in der der öffentliche Nahverkehr vollautomatisiert sein soll.
Sennett: Hier haben die Menschen keine Kontrolle, Maschinen bestimmen alles. Das ist ein geschlossenes System. Derzeit haben viele eine Vorstellung von Technik, bei der in einem geschlossenen System Form und Funktion genau zueinanderpassen. Ein offenes System hingegen würde die Technik dafür nutzen, uns mehr Entscheidungsmöglichkeiten zu geben.
“Städte sollten wie Äcker wachsen”
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“Ich glaube nicht an Masterpläne”
ZEIT Wissen: Wie können wir Stadtregierungen dazu bewegen, auf ein solch offenes System hinzuarbeiten? Auf eine “offene Stadt”, wie sie die Architekturkritikerin Jane Jacobs propagierte?
Sennett: Ich kann Politiker als Klasse nicht leiden. Sie sind die letzte Gruppe, auf die wir uns konzentrieren sollten, wenn wir unsere Städte richtig hinbekommen wollen. Ihr Geschäft ist – von einigen Ausnahmen abgesehen – der Kompromiss, die Verhandlung, nicht Überlegungen, was getan werden müsste und wie wir es tun. Ich sage meinen Studenten: Erkundet, was nötig ist, aber denkt nicht darüber nach, ob Politiker das umsetzen können. Vergesst die. Ich glaube nicht an Masterpläne. Die Einstellung, dass alles kontrolliert werden muss, gefällt mir nicht. Ich glaube an eine Stadtplanung, die mehr dem Aussäen auf einem Acker gleicht, auf dass dort etwas von unten wachsen kann.
ZEIT Wissen: Wie können wir uns dieses Aussäen vorstellen?
Sennett: Ich bin gerade aus Kolumbien zurückgekommen, aus Medellín, einer Stadt mit vielen Slums. Die Projekte in diesen Vierteln – den Barrios – etwa der Bau von Bibliotheken oder Krankenhäusern, werden von lokalen Initiativen durchgeführt. Die Regierung gibt das Geld, aber die eigentliche Arbeit geschieht von unten. Und jedes dieser unterschiedlichen Viertel schlägt dabei einen etwas anderen Weg ein, weil die Projekte lokal gesteuert werden.
Wie der Times Square verletzlich wurde
ZEIT Wissen: Die Politik in Deutschland reagiert eher feindselig auf die Idee einer Stadtentwicklung von unten.
Sennett: Das ist auch mein Eindruck. Das Problem existiert in Deutschland schon lange. Zum Teil reicht es in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zurück, als es nicht viel Spielraum für lokale Unterschiede gab, weil die Städte so zerstört waren. Eine Stadtentwicklung von unten braucht Zeit. Sie geht langsamer voran als eine von oben geplante. Deutschland hatte diese Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht. Dasselbe gilt für Großbritannien. Ergebnis war eine monotone Stadtumgebung von schlechter Qualität.
ZEIT Wissen: In Ihrem jüngsten Buch Zusammenarbeit beschreiben Sie am Beispiel einer Geigenwerkstatt, wie handwerkliche Arbeit Kooperation und soziales Verhalten stärkt. Was bedeutet das für Städte?
Sennett: Wenn wir uns auf die politische Kontrolle von oben einlassen, wirft das die Frage auf, welche Aktionen uns als Gemeinschaften noch bleiben. Ich glaube, man kann hier viel von informeller Kooperation lernen. Deshalb verwende ich die Werkstatt als eine Art Modell, wie eine Gemeinschaft ihre Zusammenarbeit auf informellen Wegen organisiert. Es gibt gewissermaßen ein Handwerk des Stadtlebens auf der lokalen Ebene. Die Menschen müssen lernen, wie sie Fähigkeiten entwickeln, um physisch mit ihren Nachbarn auszukommen, und mehr noch sozial.
ZEIT Wissen: Viel Handwerk gibt es unseren Großstädten nicht mehr. Brauchten wir wieder mehr davon?
Sennett: Städte sind heute stark von Dienstleistungen geprägt, und das macht sie sehr anfällig. In London zum Beispiel ist das ein Riesenproblem. Die Stadt hat nichts dagegen getan, als all das verarbeitende Gewerbe mit seinen Fachkräften verschwand, ebenso New York. Stattdessen entwickelte sich eine monofunktionale Büroindustrie. Die ist aber viel verletzbarer. Ich möchte Ihnen das am New Yorker Times Square verdeutlichen: Vor 30 Jahren war das ein sehr gemischtes Viertel. Die Touristen sahen nur die Drogenszene und die Theater. Wegen der billigen Mieten gab es dort aber eine enorme Anzahl an Handwerksbetrieben – Juweliere, Schneider, Kostümbildner, Leute, die Musikinstrumente reparierten, eine ganz lange Liste. Als die Stadt beschloss, den Times Square zu gentrifizieren, also die Prostitution und die Drogen loszuwerden, machte sie das indirekt: Sie ließ die Gebäude entkernen, einige sogar abreißen, um dann teurere Büros hinzusetzen, in der Absicht, das Unerwünschte loszuwerden. Daraufhin stiegen natürlich die Mieten, und das Ergebnis war eine Monokultur.
ZEIT Wissen: Inwiefern ist der Times Square dadurch Ihrer Meinung nach verletzlicher geworden?
Sennett: Die Krise der vergangenen fünf Jahre hat das Viertel stark getroffen. Der Leerstand liegt bei 18 Prozent, weil es zu viele Büros in New York gibt. Deshalb glauben ich und andere Stadtforscher, dass wir wieder Orte für Handwerk und verarbeitendes Gewerbe zurückgewinnen und schützen müssen und so die Stadt wieder besser ausbalancieren.
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