Heiner Köchlin

«Heiner Koechlin 1918–1996. ­Porträt ­eines Basler Anarchisten»

Von: www.kretiundpleti.ch

Heiner Koechlin hält 1963 die 1. Mai-Rede auf Spanisch. (Bild: Staatsarchiv, Hans Bertolf)

Auszug aus dem Buch “Heiner Koechlin 1918–1996. ­Porträt ­eines Basler Anarchisten”:

Zu seinen schönsten Erinnerungen zählt Heiner Koechlin im Rückblick auf seine Kindheit die Sommerferien. “Der Geruch der Bergwelt vermittelt mir noch heute ein starkes Heimat-Gefühl, aber merkwürdigerweise empfinde ich ein solches auch, wenn ich irgend wo auf der Welt, den Gestank einer chemischen Fabrik verspüre.”

Obwohl der Gestank der Fabriken also auch Heimat bedeutete, erinnerte sich Koechlin nur ungern an die Rückkehr aus den Ferien in das Elternhaus. Als sehr unangenehm empfand er das Aussteigen aus dem Taxi in Kleinhüningen. Die Ankunft des Taxis sorgte im Quartier regelmässig für Aufruhr und führte zu einer Menschenansammlung, so ungewöhnlich scheint dieser Anblick gewesen zu sein. Im Quartier stellte die Familie Koechlin in vielerlei Hinsicht eine Besonderheit dar.
1922 war die Arztfamilie aus ihrer vorübergehenden Wohnung an der Bernoullistrasse aus dem Grossbasel in das Untere Kleinbasel gezogen. In den ersten Jahren bewohnte sie das Klybeckschloss, oder eher -Schlösschen: Ehemals hatte das Haus als Sitz der Basler Landvögte gedient. Von Basel aus führte die Strasse nach Kleinhüningen direkt durch den befestigten Landsitz hindurch. Während der Helvetik wurde die Herrschaft der Landvögte unterbunden, und das Schloss wechselte in der Folge mehrere Male seine Besitzer. Beim Umzug der Familie Koechlin nach Kleinhüningen gehörte das Gebäude der Basler Baugesellschaft, die Koechlins wohnten hier zur Miete. Um das Schlösschen herum war seit dem letzten Drittel des 19.Jahrhunderts sowohl im Westen auf Kleinhüninger Boden als auch gegenüber im Klybeck ein Arbeiterquartier entstanden.

Kleinhüningen: vom Fischerdorf zum Arbeiterquartier

Kleinhüningen war ein eigenständiges Fischer- und Landwirtschaftsdorf gewesen, bis gegen Ende des 19.Jahrhunderts unter dem Einfluss der industriellen Entwicklung die Grenzziehung zwischen Dorf und Stadt zunehmend verwischt wurde. In unmittelbarer Nähe der Gemeindegrenze wurden erste industrielle Betriebe errichtet wie beispielsweise die Farbenfabrik von Alexander Clavel. Die industrielle Entwicklung führte in der Stadt Basel zu einem rasanten Bevölkerungswachstum, das seine Entsprechung in der Expansion des Wohnraums fand: Die Stadtmauern wurden geschleift, die städtische Überbauung wuchs im Unteren Kleinbasel von der Klybeckstrasse her in Richtung Kleinhüningen. Der bauliche Zusammenhang mit der Stadt wurde nach der Jahrhundertwende immer dichter. Auf dem Boden der Landgemeinde wurden nun auch erste industrielle Betriebe errichtet, wie Robert Bindschedlers Fabrik für Farbstoffe und chemische Präparate. Entlang der Wiese siedelten sich um die Wende zum 20.Jahrhundert erste Färbereibetriebe an. Kleinhüningen entwickelte sich zu einem städtischen Aussenquartier.

In diese Zeit fällt auch die politische Verschmelzung Kleinhüningens mit der Stadt Basel: Die Landgemeinde hatte die Stadt bereits gegen Ende des 19.]ahrhunderts aufgrund ihrer finanziellen Lage um eine Übernahme ihrer Gemeindegeschäfte gebeten. Als zu drückend wurde die Steuerlast für die Einwohner der Gemeinde, zum grössten Teil Arbeiter mit bescheidenem Einkommen, beschrieben. Als weiteres Argument wurde die zunehmend verwischte Grenze zwischen Dorf und Stadt aufgeführt: “Örtlich ist die Gemeinde von der Stadt kaum mehr getrennt, und der notwendige bauliche Anschluss wird bald vollzogen sein, da eine Ausdehnung Kleinhüningens gegen Norden durch die nahe Grenze verhindert und das Wachstum der Stadt gerade in dieser Richtung eine intensive ist”, hiess es im Ratschlag von 1891. In einer ersten Etappe wurde 1893 die politische
Gemeinde Kleinhüningen in die Organisation des Halbkantons eingegliedert.
Was bis 1908 weiterhin bestehen blieb, war die Bürgergemeinde des ehemaligen Fischerdorfs. Die bauliche Verschmelzung mit der Stadt wurde indessen immer dichter, durch den Bau der Umschlagplätze des Badischen Bahnhofs hatte der Grundbesitz der Bürgergemeinde stark abgenommen.
Zu Beginn des 20.]ahrhunderts wurden weitere Vereinigungsverhandlungen aufgenommen und im Dezember 1907 stimmten die Kleinhüninger Stimmbürger schliesslich der endgültigen Fusion zu. Was baulich bereits geschehen war, wurde nun auch aus politischer Sicht vollzogen: Kleinhüningen wurde zu einem städtischen Aussenquartier.

Kleinbasel zwischen Ciba und Wiese

In Kleinhüningen hatte sich die Bevölkerung zwischen 1850 und 1900, also innerhalb von 50 Jahren, von 531 auf 1882 Menschen mehr als verdreifacht. Beinahe 75 Prozent aller Einwohner um 1900 waren keine Basler Kantonsbürger. Die Neuzugezogenen kamen aus dem Ausland oder aus anderen Schweizer Kantonen. Für viele von ihnen war Kleinhüningen ein erster Wohnort, bevor sie weiter ins Stadtinnere zogen. Der Volkskundler Paul Hugger beschreibt Kleinhüningen als eine Schleuse, durch die Deutsche aus der Nachbarschaft in die Schweiz gelangten, sich niederliessen und später weiterzogen. Die Zuwanderer waren mehrheitlich Handwerker oder ungelernte Fabrikarbeiter, die vor allem in den Färbereien und chemischen Betrieben Beschäftigung fanden.
Hugger charakterisiert Kleinhüningen als ärmliches, im Gegensatz zum benachbarten Klybeckquartier allerdings als etwas weniger trostloses Quartier. Um 1910 zählten rund zwei Drittel der Einwohner zu den drei unteren Einkommensklassen, zu welchen Unterbeamte und ungelernte Arbeiter gehörten. Die meisten Bewohner Kleinhüningens lebten etwas über dem vitalen Minimum. Das benachbarte Klybeckquartier war erst im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts entstanden. Vom Statistischen Amt wurde es 1910 als “Industrieviertel” charakterisiert, in welchem der “Typus der Mietskaserne” dominierte: dichte Blockrandbebauung mit Innenhöfen, die teilweise durch Gewerbebetriebe genutzt wurden. Die zeitgenössischen Beschreibungen des Quartiers erwecken den Eindruck hoffnungsloser Trostlosigkeit: “Lange hohe Häuserreihen, Fabrikkamine, grosse Gaskessel, unangenehmer Geruch chemischer Produkte, dies sind die äusseren Kennzeichen des Arbeiterquartiers Klybeck-Kleinhüningen.”
Eine der markantesten Veränderungen im Unteren Kleinbasel dürfte der Bau der Hafenanlagen gebracht haben. 1914 gab die Regierung der Stadt Basel die Planung der Hafenanlagen in Auftrag, nach dem Krieg, am 20. Februar 1919, wurde mit dem Bau des ersten Hafenbeckens begonnen.
Das Land am Rheinbord war vielen kleinen Landbesitzern, die dort ihre Gemüsegärten unterhielten, abgekauft worden. Anfang August 1923 wurde die erste Hafenanlage in Betrieb genommen, 1939 schliesslich war der gesamte Bau abgeschlossen. In den 20 Jahren war am Rheinufer eine eigentliche Industrielandschaft entstanden, bestehend aus zwei grossen Hafenbecken, verschiedenen Silos, Tankanlagen und Lagerräumen. Hier wurden industrielle Rohmaterialien, Kohle, Getreide und flüssige Brennstoffe umgeschlagen und auch gelagert.

Mit dem Bau der Hafenanlagen entstand auch ein neues Berufsfeld: die Hafenarbeiter. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war das Umschlagen eine personalintensive Akkordarbeit. Kohle wurde in Körben an Land gebracht. Die Arbeit im Hafen war eine Gelegenheitsarbeit ohne feste Arbeitsbedingungen.

Ausgeprägtes Klassenverständnis

Als sozial engagierter Arzt eröffnete Eduard Koechlin 1921 seine Arztpraxis in diesem Quartier, in welchem nur zwei, drei weitere Ärzte tätig waren.

Flugaufnahme der Ciba-Werke im Klybeckquartier von 1928. Das Haus der Familie Koechlin befindet sich in der Fortsetzung der parallel zum Rhein verlaufenden Klybeckstrasse. Es ist auf der Aufnahme nicht mehr sichtbar.

Eindrücklich beschreibt Heiner Koechlin die deutliche Grenzziehung der sozialen Schichten untereinander in den Jahren seiner Kindheit, die sich in der Topografie der Stadt widerspiegelte. “Das Kleinbasel zwischen Ciba und Wiese war [mit] einem Getto zu vergleichen, dessen Bewohner sich kaum bis ins obere Kleinbasel, geschweige denn ins Grassbasel wagten. Unterhalb dieses Gettos gab es dann noch ein zweites, das sogenannte Negerdörflein, eine an der Neuhausstrasse gelegene Barakkensiedlung, die von einer noch ärmeren Schicht bewohnt war.”

Das Negerdörfli war als provisorische Barackensiedlung zur Aufnahme von Flüchtlingen gegen Ende des Ersten Weltkriegs entstanden, östlich von Kleinhüningen, gleich vor dem Grenzübergang Otterbach. Die Siedlung bestand aus kleinen Einfamilienhäusern mit zwei bis drei Zimmern, Küche und Bad und einem winzigen Gärtlein. In der Zwischenkriegszeit wurden in der Neuhausstrasse hauptsächlich kinderreiche Schweizer Familien untergebracht, die Baracken dienten wegen der Wohnungsknappheit als Notwohnungen. Aufgrund ihrer grossen Armut, des Kinderreichturns und der schäbigen Behausung bildeten ihre Bewohner innerhalb der Quartiershierarchie das Schlusslicht und wurden von den übrigen Bewohnern gemieden.

Die Barackensiedlung an der Neuhausstrasse, kurz vor dem Grenzübergang Otterbach, um 1937.

Auch umgekehrt wurden die sozialen Stadtgrenzen kaum je überschritten: Das Untere Kleinbasel wurde von Angehörigen der wohlhabenden Schichten der Stadt kaum besucht. Umso erstaunlicher war es, dass ein Arzt mit seiner Familie diese soziale und geografische Grenze durchbrach und ins Untere Kleinbasel zog. Von einigen Angehörigen der Familien Koechlin und von Orelli wurde dieser Schritt als Demonstration, gar als Provokation verstanden. Ursula Walter, eine Nichte Heiner Koechlins, erinnert sich, dass einige Familienmitglieder mütterlicherseits sich weigerten,
die Koechlins im Unteren Kleinbasel zu besuchen.
Eduard Koechlin war mit seiner Familie bewusst ins Klybeckquartier gezogen, “in diesen Gestank”, wie bei seiner Abdankung betont wurde, weil er den Menschen im Rahmen seiner arztlichen Tätigkeit helfen, weil er für sie da sein und mit ihnen leben wollte. Im Quartier war Eduard
Koechlin bekannt, er machte seine Krankenbesuche mit dem Fahrrad, manchmal von seinem Hund, manchmal auch von seinen Kindern begleitet – so etwa bei seinen Besuchen der Patienten im Hafen, die in engen Kajüten auf Rheinschiffen wohnten. Nicht selten führte er die Kinder aus dem Quartier, die zu ihm in die Sprechstunde kamen, in die Küche, “um
ihrer Unterernährung für den Moment etwas abzuhelfen”.
Sozialistische Kirchgenossen und Settlementsbewegung in Basel 1924 bezog die Familie Koechlin das neue Wohn- und Arzthaus, das auf einem Teil des ehemaligen Schlossareals erbaut worden war. Der Garten des neuen Hauses war ein Teil des Schlossgartens. Das Haus passte “in das von Chemie- und Hafenarbeitern bewohnte Quartier [ … ] wie die Faust aufs Auge”. Wiederholt hat Heiner Koechlin dieses Haus beschrieben, das nicht recht ins Quartier passen wollte mit den Büsten im Garten und seiner bürgerlichen Ausstrahlung. Das Haus machte den Unterschied zwischen der Quartierbevölkerung und der Arztfamilie sichtbar und unterstrich ihre Sonderstellung.
Eduard Koechlins Engagement für die Arbeiterschaft beschränkte sich nicht nur auf seine Tätigkeit als Arzt, er war auch Mitglied der Sozialistischen Kirchgenossen und der Sozialdemokraten, deren Anliegen er während insgesamt 16 Jahren im Grossen Rat vertrat. “Doch er war kein Parteimensch und bewahrte sich immer seine persönliche Unabhängigkeit”, schreibt sein Sohn in seinen Erinnerungen. Interessant ist Eduard Koechlins Partei- und Vereinszugehörigkeit dennoch, gibt sie doch Aufschluss über die politische und weltanschauliche Motivation, die zum
Umzug ins Untere Kleinbasel geführt hatte und die wenig später auch zum Engagement innerhalb der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Ulme führte.
Vermutlich war die Idee massgeblich durch Helene Koechlins Schwester Mathilde von Orelli geprägt worden: Sie hatte in Berlin die Soziale Frauenschule besucht und 1914/15 auch ein Praktikum bei Friedrich Siegmund-Schultze in einem Arbeiterquartier absolviert. Von 1924 bis 1926 arbeitete sie in der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost (SAG), einem Nachbarschaftshilfe- und Siedlungsprojekt Siegmund-Schultzes. Inspiriert von der englischen Settlements-Bewegung setzte sich die SAG dafür ein, dass sich Angehörige bürgerlicher Schichten in den Proletariervierteln ansiedelten, nachbarschaftliehe Hilfe und Weiterbildung anboten, um so die Armen zur Selbsthilfe zu befähigen.
Die Ulme entstand 1926 nach dem Umzug Mathilde von Orellis zur Familie Koechlin nach Kleinhüningen. Seinen Namen verdankte das Projekt einem Baum, der im Garten des Schlüsschens stand. Beinahe die gesamte Kindheit und Jugendzeit der drei Geschwister Esther, Heiner und Felix war geprägt durch das Engagement des Vaters, der Tante und auch der Mutter.

Mathilde von Orelli 1934 im Alter von 43 Jahren.

Das Klybeckschlössli an der Klybeckstrasse 248, Ende der 1920er-Jahre. Zur Linken steht das neu erbaute Arzthaus.

Blick auf das Arzthaus an der Kleinhüningerstrasse 55. Arzthaus und Schlössli waren ums Eck durch einen Garten miteinander verbunden.

“Wer Gelegenheit hat, mehrere Jahre im Viertel der chemischen Fabriken Basels zu wohnen, dem drängt sich immer deutlicher die Notwendigkeit auf, dass abgesehen von kirchlicher, ärztlicher und gemeinnütziger Hilfe den Familien Rat und Beistand in den verschiedensten Beziehungen zuteil werden sollte”, so umschrieb Mathilde von Orelli 1928 die dem Hilfswerk zugrunde liegende Motivation. Die Ulme operierte auf zwei Ebenen: Einerseits wollte sie Volksbildungsarbeit leisten, andererseits sollte die gegenseitige Nachbarschaftshilfe gefördert werden. Unter Nachbarschaftshilfe wurde vor allem die Hilfe und Anteilnahme Angehöriger der besitzenden Klassen am Leben der Arbeiterschaft verstanden. Sie machten sich zum Nachbarn des leidenden Proletariats, suchten seine Freundlichkeit und boten so weit möglich ihre Hilfe an, schrieb eine ehemalige Ulmen-Mitarbeiterin 1932 in einem Bericht für die Soziale Frauenschule Zürich. So wurde die Ulme auch zu einer Vermittlerin zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft und zu einer Plattform von Frauen und Männern aus der Oberschicht, die Dienst an den Hablosen tun wollten.
Zwar war die Ulme politisch und konfessionell unabhängig und stand allen offen, ihr zugrunde lagen jedoch die Gedanken einer religiös-sozialen Bewegung, deren prominentester Vertreter der Theologe Leonhard Ragaz war. Die Sozialdemokratie wurde von dieser Bewegung als Vorbotin
des Reichs Gottes in der Welt verstanden: Der lebendige Gott würde sein Reich in der Welt einrichten und dafür Menschen zur Mitarbeit rufen. Es ging also nicht primär um die individuelle, sondern um eine soziale Befreiung. In der herrschenden Kirche sahen die linken Protestanten
eine Kultur, in welcher wirkliche Gerechtigkeit nicht durchsetzbar war.
Deshalb sollten Christen und Sozialisten sich zu gemeinsamer politischer Aktivität verbinden, woraus eine echte religiöse Erneuerung entstehen würde. Die Vertreter des religiösen Sozialismus setzten sich in der Folge für die Arbeiterschaft und deren Anliegen ein. In verschiedenen Schweizer Städten bildeten sich nach 1909 lokale Vereinigungen, in Basel hiess die Gruppierung Sozialistische Kirchgenossen. Die Idee der Ulme, der Settlement-Bewegung überhaupt, durch gemeinsames Wohnen eine Besserung der sozialen Missstände durch ein freundliches Band zwischen Helfern und Bedürftigen zu schaffen, war ein Teil des Gedankenguts der religiösen Sozialisten.
Die Koechlins und Mathilde von Orelli blieben nicht die einzigen sogenannten Siedler im Unteren KleinbaseL Nach ihrem Umzug ins Arzthaus bezog der ehemalige Pfarrer und Redaktor der Zeitschrift des Blauen Kreuzes Robert Schwarz mit seiner Familie die Räume des Schlösschens gegenüber.
In seinem Roman ‘Das Staunen der Seele’ nahm Robert Schwarz das Gedankengut der Sozialistischen Kirchgenossen auf. Die Protagonistin ist eine Ärztin, die familiären Konventionen zum Trotz eine Praxis im Arbeiterviertel eröffnet. Auf über 500 Seiten werden in Gesprächen mit Freundinnen, Patienten und Kontrahentinnen sowie durch ihre Handlungen ihre politischen und religiösen Überzeugungen entfaltet. Wie sehr dieser Roman von Schwarz’ Erlebnissen mit den Koechlins und Mathilde von Orelli geprägt ist, zeigt sich besonders gegen Schluss, als die Hauptfigur nach einem Nervenzusammenbruch ihre Praxis schliesst und eine Organisation mit dem sprechenden Namen “die Brücke” aufbaut, in welcher “Leute aus der Bürgerschaft und aus der Arbeiterschaft zusammenkommen”, um die “Kluft [zu] überbrücken, die unser Volk auseinanderreisst”.

Das Engagement der Sozialen Arbeitsgemeinschaft die Ulme

Die Arbeit der Ulme begann 1926 mit einer kleinen Gruppe von elf Arbeiterinnen. Die jungen Frauen trafen sich einmal wöchentlich im Arzthaus, um “bei uns gemeinsam zu spielen, zu arbeiten, zu singen usw.”, wie Mathilde von Orelli 1928 festhielt. Bereits zwei Jahre später hatten sich insgesamt fünf Mädchengruppen etabliert, rund 100 Mädchen und junge Frauen fanden sich regelmässig zu den Treffen ein. Parallel begann sich auch eine Müttergruppe zu formieren, die Kontakt und Zugang zu den Familien ermöglichte. Immer mehr Gruppen entstanden, sodass eine Kommission gebildet, finanzielle Mittel sowie mehr Helferinnen und Helfer gesucht und Statuten geschrieben werden mussten. 1929, nachdem es gelungen war, einen Teil des Schlösschens für die Ulme zu mieten, war endlich auch Raum für Knaben- und Männergruppen vorhanden. Ihre Hochblüte erlebte die Ulme in den frühen 1930er-Jahren: Wöchentlich kamen rund 550 Menschen aller Altersgruppen an die Treffen und Veranstaltungen im Schlösschen. Zwischen 20 bis 25 Helferinnen und Helfer arbeiteten nun mit. Zur Ulme hinzugestessen waren einige Freundinnen und Bekannte der Familien Koechlin und von Orelli, aber auch andere, die sich engagieren wollten. Mathilde von Orelli hatte am 18. September 1931 im Bernoullianum einen beeindruckenden Vortrag über die Lebensformen der Arbeiterfamilie gehalten: Eindringlich schilderte sie einem wohl gut situierten Publikum im Grossbasel das Leben im Unteren Kleinbasel, das geprägt war von engen Wohnungen, eintönigen, häufig ungesunden Arbeitsbedingungen und prekären Einkommenssituationen. Wurde ein Elternteil krank, so gerieten die Familien in Existenznöte. Mathilde von Orelli erzählte von ihren Erlebnissen im Kontakt mit den Arbeiterinnen und Arbeitern. Ihre Schilderungen zeigen deutlich, dass sie Armut nicht in einem moralisierenden Sinne interpretierte, vielmehr suchte sie die Gründe in sozialen und ökonomischen Zusammenhängen. Mit ihrem Vortrag gelang es ihr, gleich zwei Frauen zur Mitarbeit zu motivieren. Schüler und Studenten, angehende Lehrer und Sozialarbeiterinnen erweiterten den Kreis der Helfenden.
Wichtiger Bestandteil der Ulme war die Bibliothek, die vorwiegend aus geschenkten Büchern bestand und eine entsprechend bunte Palette anbot. Sie erfreute sich grosser Beliebtheit, wie in zahlreichen Berichten hervorgehoben wurde. Mit den Kindern wurde gespielt, erzählt und gebastelt, mit den Müttern genäht und diskutiert. Die Männer trafen sich zu Referaten und Gesprächsrunden. Hausbesuche und Ausflüge gehörten ebenfalls zum Programm. Seit Beginn ihrer Tätigkeit bot die Ulme Arbeiterfrauen und später auch ganzen Familien die Möglichkeit, kostengünstig Ferien oder Wochenendeausflüge zu unternehmen. Zu diesem Zweck wurden 1931 einige Räume in einem Bauernhaus bei Sissach gemietet.
Zur gleichen Zeit gelang es auch, nach dem Auszug der Familie Schwarz, das gesamte Klybeckschlösschen zu übernehmen. Kurzzeitig wurden Kurse und Lehrgänge in Fremdsprachen, Krankenpflege, Elektrotechnik und Kunstgeschichte angeboten. 20 In dieser Zeit nahm die Arbeitslosigkeit stetig zu, bereits am Vormittag trafen deshalb Erwerbslose im Schlösschen ein, wo sie sich den ganzen Tag in Gemeinschaft aufhalten konnten. Einige der Kurse richteten sich speziell an erwerbslose Frauen und Männer. Die Ulme war in diesen Jahren das Kulturzentrum und der Treffpunkt innerhalb des Quartiers.
Da die Bewohnerinnen und Bewohner der Barackensiedlung sich nicht mit den übrigen Quartiereinwohnern mischten, wurde 1932 in einem leerstehenden Häuschen an der Neuhausstrasse eine Filiale eröffnet, das Ulmenhüsli.
Den Höhepunkt des Jahres bildete jeweils das Frühlingsfest im Kirchgemeindehaus St. Matthäus, an welchem sich Kinder und Erwachsene aus der Ulme aktiv beteiligten. Die Vorbereitungen für das Fest begannen bereits im Winter, für 120 bis 150 Menschen mussten Rollen ausgesucht und geprobt werden. Zur Aufführung gelangten zum Beispiel dramatische Volkserzählungen von Leo Tolstoi oder Geschichten von Johann Peter Hebel, wie Heiner Koechlin rückblickend festhielt. In Erinnerung geblieben sind ihm auch die Ansprachen seines Vaters, der teils humorvoll, teils ernst seine Familie willkommen hiess. Zwischen 700 und 800 Leute kamen jeweils an das Fest.
Das Kursangebot der Ulme wurde im Frühling 1933 eingestellt. In den Berichten über die Ulme wurde erklärend festgehalten, dass Kirche und Staat diese Aufgaben inzwischen übernommen hätten. Den Jahresberichten zufolge rückte die Arbeit in verschiedenen Gruppen wieder ins Zentrum. Bis 1936 kamen im Winter noch rund 550 Personen wöchentlich an die Gruppenabende, zu Chorproben, Gesprächen oder in die Bibliothek. Ende des Jahres 1936 musste die Tätigkeit schliesslich aufgrund finanzieller und personeller Begrenzungen reduziert werden: Nach zehnjähriger Arbeit für die Ulme musste Mathilde von Orelli wegen Überarbeitung einen längeren Erholungsurlaub antreten. Trotz intensiver Suche konnte keine Nachfolgerin gefunden werden. Hinzu kam der Mangel an finanziellen Mitteln. Die Ulme hatte während ihrer Existenz immer mit finanziellen Engpässen zu kämpfen gehabt, erhielt sie doch weder von staatlicher noch von privater Seite regelmässige Unterstützungsbeiträge.
Die Miete des Schlösschens musste aufgegeben werden und in der Folge wurden auch die meisten Gruppen aufgelöst. Für die Schülerinnen und Schüler wurden innerhalb der Schule alternative Zusammenkünfte organisiert. Einige Gruppen für Schulentlassene konnten in einem Hinterhaus
weitergeführt werden. Mit dem Kriegsausbruch wurde es zunehmend schwieriger, geeignete Hilfskräfte für die Organisation und Betreuung zu finden . 1941 erschien der letzte Jahresbericht: Alle Gruppen waren aufgehoben worden. Aufrechterhalten wollte man indessen die Hausbesuche, um auf diesem Weg in Not geratene Menschen weiterhin unterstützen zu können. 1943 schliesslich wurde die Ulme ganz aufgelöst.
Helene und Eduard Koechlin blieben noch bis 1950 im Quartier. Erst nach der Pensionierung zogen sie sich in ein Haus in Münchenstein zurück. Eduard starb 1964 und Helene 1973 in Basel. Mathilde von Orelli arbeitete von 1943 bis 1958 als Sozialarbeiterin bei der Basler Winterhilfe.
Sie starb 1983 in einem Altersheim in Kleinhüningen.

Das Vermächtnis der Ulme

Die Ulme lebte vom Engagement der Siedlerinnen und Siedler. Am Ende ihrer finanziellen und physischen Kapazitäten angelangt, mussten die Koechlins und Mathilde von Orelli ihre Aktivitäten schliesslich einstellen.
Unendliche Flickarbeit, die keine grundsätzlichen Verbesserungen bringe, so lautete die Kritik an der Settlements-Bewegung aus Fachkreisen.
Vielleicht aber hatte die Ulme doch ein paar Angehörige der Oberschicht bewegt, ihre Perspektive auf Armut und soziale Ungleichheit zu hinterfragen. Und wahrscheinlich blieben die Ausflüge, die gemeinsamen Treffen und Theateraufführungen für einige der Teilnehmenden gute und bereichernde Erinnerungen. Leider gibt es nur wenig Anhaltspunkte, die Schlüsse über die Perspektive der Arbeiterschaft auf das Projekt zulassen. Immerhin war es der Ulme während einiger Jahre gelungen, mehrere Hundert Frauen, Männer und Kinder anzusprechen und für gemeinsame Aktivitäten zu motivieren. In den Jahresberichten allerdings und auch in einigen Arbeiten angehender Sozialarbeiterinnen wird angedeutet, dass man den Siedlern zumindest zu Beginn mit Skepsis begegnete und es Zeit brauchte, diese Zurückhaltung zu überwinden. Auch schwingt von Seiten der Leitung etwas Enttäuschung mit, wenn darüber berichtet wird, dass handwerkliche Kurse und Spiele sich über regeren Zuspruch erfreuten als geistige Tätigkeiten oder dass es schwierig war, den Proletariern die Schönheit klassischer Musik näherzubringen, weil sie mehr Freude hätten an Musik, “wie man sie in der Wirtschaft zum Besten gibt”.
Aller Nähe, allem Kontakt und aller Selbstreflexion der Siedlerinnen und Siedler zum Trotz kann aus heutiger Perspektive festgestellt werden, dass man in Bezug auf die zu vermittelnde Bildung mit einem gewissen missionarischem Impetus auf die Arbeiterschaft zugegangen war.
Im Nachhinein wurde von Expertinnen, die selbst in Settlements gelebt hatten, auch infrage gestellt, ob es der Bewegung tatsächlich gelungen sei, Klassengrenzen zu überwinden. Heiner Koechlins Erinnerungen machen deutlich, dass es ihm und vermutlich auch den anderen beiden Kindern nicht möglich war, die Sonderrolle zu überwinden, die sie im Quartier innehatten.

Familie Koechlin um 1925: Helene, Felix, Eduard, Heiner und Esther (von links nach rechts).

“Schwarzli und wir”: Heiner, Esther und Felix Koechlin im Garten des Schlösschens zusammen mit ihrer Mutter und den Nachbarskindern Marianne und Martin Schwarz, um 1927.

Politisierte Kindheit

Für alle drei Koechlin-Kinder war das Aufwachsen im Arbeiterquartier als Teil des Siedlungsprojekts Ulme prägend, was sich auch in ihren späteren Lebensentwürfen abzeichnet.
Esther Koechlin leitete als 15-Jährige selbst Mädchengruppen. “Meine Ulmenkinder 1930”, schrieb sie in ihr Album unter zwei Fotos. Einige ihrer Freundinnen arbeiteten ebenfalls mit. “Durch meine intensive Mitarbeit in der Ulme – Leitung von Kindergruppen und Hausbesuche – lernte ich
früh proletarische Lebensverhältnisse und Mentalitäten kennen”, schrieb sie rückblickend. Diese “sozialen Einsichten” versuchte sie auch in andere Lebens- und Wirkungskreise einzubringen: als junge Frau in der Töchterschule und bei den Pfadfinderinnen, später auch als Pfarrfrau in St. Gallen und Gelterkinden. Sie erlebte den Zweiten Weltkrieg in St. Gallen, wo Flüchtlinge längere Zeit in der Familie lebten. Als der Krieg vorbei war, engagierte sie sich in der Nachkriegshilfe. “Das Engagement gegen Ungerechtigkeiten” führte sie zeitlebens zur aktiven Mitarbeit in vielen Gruppierungen, wie ihr Ehemann Peter Walter bei ihrer Abdankung am 21. Mai 1999 rückblickend betonte. Jahrelang organisierte sie zum Beispiel Schulpatenschaften für Kinder politischer Gefangener in Südafrika. Ein paar Jahre vor ihrem Tod schrieb sie, Otto Stich habe ihr aus dem Herzen gesprochen, als er sagte: “Solange es Arme gibt, braucht es Sozialisten, die diesen zu ihrem Recht verhelfen – und dazu werde auch ich immer gehören.”

“Meine Ulmenkinder” schrieb Esther Koechlin in ihrem Album unter diese beiden Bilder.

Felix, der um drei]ahre jüngere Bruder Heiner Koechlins, studierte an der Universität Basel Medizin und wurde Arzt wie sein Vater. Zuerst praktizierte er in Bergün im Graubünden, später eröffnete er ebenfalls eine Praxis im Kleinbasel, im Rappoltshof. “Nie hat er sein Wissen als Macht verstanden, oder gar missbraucht. Nie hat er Menschen nach ihrer Herkunft, ihrer gesellschaftlichen Stellung oder nach der Meinung anderer beurteilt”, schrieb sein Sohn nach seinem Tod über ihn. Felix Koechlin setzte durch seine Arbeit und sein Zugehen auf Menschen die bereits im Elternhaus geprägte Idee der Begegnung auf Augenhöhe fort. Er war der wohl wichtigste Weggefährte Heiner Koechlins auf seinem politischen Weg, vermutlich sogar in seinem Leben.
Die beiden Brüder Heiner und Felix sind auf vielen der überlieferten Ulmen-Bilder inmitten der Kinderschar zu erkennen. Offenbar beschränkte sich ihre Teilnahme nicht nur auf das jährliche Fest. Wie bei Esther führte das Aufwachsen zwischen Ciba-Werken und Wiese bei Heiner und seinem Bruder schon früh zu politischem Interesse: “Noch in der Primarschule hörte ich die Namen der beiden italienischen Anarchisten Sacco und Vanzetti, an denen in den Vereinigten Staaten von Amerika ein Justizmord verübt wurde.” 1919 war in Massachusetts ein Raubüberfall verübt worden, bei welchem zwei Personen ums Leben kamen. Des Mordes angeklagt wurden Ferdinando Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti, zwei italienische Arbeiter, die einer anarchistisch orientierten Gruppierung nahestanden. Nach über siebenjähriger Haftzeit wurde 1927 auf der Basis eines fragwürdigen Indizienprozesses das Todesurteil gesprochen.
In der Zeit der sozialen und politischen Spannungen mobilisierte dieses Urteil weltweit öffentliche Protestkundgebungen. Auch in Heiner Koechlins Klasse wurdü über das Urteil diskutiert: “Einige meiner Mitschüler hielten sie für schuldig, andere für unschuldig, je nachdem, was sie zu Hause aufgeschnappt hatten.” In Basel riefen Gewerkschaften und linke Parteien zu einer Manifestation “gegen die bürgerliche Schandjustiz” und zur Solidarität mit den beiden Genossen auf. Auf dem Marktplatz und in den Zugangsstrassen und -gässchen hätten sich am 10.August 1927 über 12000 Personen versammelt, vermeldete die kommunistische Zeitung Basler Vorwärts. Nach der Kundgebung explodierte am Barfüsserplatz eine Bombe. Das Innere des Tramhauses wurde zerstört, mehrere Menschen waren zum Teil schwer verletzt, ein Billetteur starb an den Folgen seiner Verletzungen.

Das zerstörte Tramhaus am Barfüsserplatz nach dem Bombenanschlag vom 10. August 1927.

In der bürgerlichen Presse wurde ein Zusammenhang zwischen der Kundgebung und den Bombenlegern vermutet. Einige Tage nach dem Attentat wurde von bürgerlichen Parteien ein gemeinsam unterzeichnetes Communique veröffentlicht, in welchem die linken Parteien und Gewerkschaften angeklagt wurden, “durch ihre tägliche Arbeit in Presse und Versammlungen jene Atmosphäre [zu] schaffen, in der solche verbrecherische Akte zu reifen vermögen”. Zeitungsorgane der sozialistischen und der kommunistischen Parteien verdächtigten auf der anderen Seite faschistische Akteure einer gezielten Provokation und klagten bürgerliche Kreise an, das Attentat zur Hetze gegen ihre politischen Gegner zu instrumentalisieren: “Hinter dem leichenschänderischen Beginnen der bürgerl. Presse stehen kapitalistische Interessen.” Aus Angst vor der Stärke der kämpferischen Arbeiterklasse versuche man, die Meinungs- und Kundgebungsfreiheit zu beschneiden.
Die Reaktionen auf das Bombenattentat zeigen, mit welcher Vehemenz politische Differenzen zwischen links und rechts, zwischen Vertretern von bürgerlichen Vereinigungen und Organisationen der Arbeiterschaft ausgetragen wurden. Wer wirklich für das Attentat verantwortlich war, konnte nie restlos geklärt werden.

Gespaltene Linke

Innerhalb des linken Lagers war man sich indessen alles andere als einig, was Heiner Koechlin als Kind auch zu spüren bekam. “Am 1. Mai war in unserer Strasse fast jedes Haus mit einer roten Fahne geschmückt. Auch wir hängten an unserem bürgerlichen Haus eine solche heraus.”
Die Fahne vor dem Koechlin’schen Arzthaus war eine Fahne der Sozialdemokratischen Partei und trug die Buchstaben SP. Der Weg zum Treffpunkt auf dem Sportplatz in Kleinhüningen führte an diesem Haus vorbei und die kommunistischen Jungpioniere, Frauen und Männer der sogenannten Arbeiterwehr blieben vor dem Haus stehen und skandierten in Sprechchören: “Nieder mit den Sozialfaschisten!” Zwischen dem linken und rechten Parteiflügel der SP war es nach dem Ersten Weltkrieg immer wieder zu Spannungen gekommen. Zur Spaltung führte 1920 schliesslich die Frage nach dem Beitritt zur Kommunistischen Internationalen. Der linke Flügel wurde auf nationaler Ebene überstimmt, der Beitritt wurde abgelehnt. Die im schweizerischen Vergleich links ausgerichtete SP Basel hatte für den Beitritt zur Internationalen votiert. Nach der Gründung der Kommunistischen Partei (KP) verlor sie einen Grossteil ihrer Mitglieder. Innerhalb weniger Jahre erreichte die neu gegründete KP rund 20 Prozent der Wählerstimmen, grösstenteils auf Kosten der Sozialdemokratie. Zwar trat die KP in der Regel etwas radikaler auf in ihren Forderungen, aufgrund der Konkurrenzsituation fuhr die Basler SP auf der kantonalen parlamentarischen Ebene zunächst jedoch ebenfalls einen dezidierten Linkskurs. Gegen Ende der 1920er-Jahre allerdings bewegte sich die SP vor allem auf nationaler Ebene in Richtung Sozialpartnerschaften. Sie passte sich an bürgerliche Mehrheitsverhältnisse an, während die zunehmend von der Sowjetunion aus zentralistisch organisierte KP sich kompromissloser für die Rechte der Arbeitnehmer einsetzte. 1927 wurde in den eidgenössischen Räten ein neues Besoldungsgesetz verabschiedet, welches die Vereinsfreiheit beschränkte und auch ein Streikverbot enthielt. Während die SP dem Gesetz zustimmte, ergriffen die Kommunisten das Referendum. Die Differenzen zwischen KP und SP führten in Basel schliesslich sogar zur Spaltung der Gewerkschaften. Am 1. Mai 1928 gab es im Zuge dieser Richtungskämpfe zwei getrennte Kundgebungen: Das alte Gewerkschaftskartell führte die Kundgebung mit Demonstrationszug durch das Kleinbasel zum Marktplatz, das sozialdemokratisch dominierte neue Kartell rief seine Anhängerschaft auf den Münsterplatz.

Aus dem Album von Esther Walter-Koechlin:
Vermutlich marschierte hier Mathilde von Orelli am 1.-Mai Umzug als Mitglied der sozialdemokratischen Frauen mit.

Der Ausruf “Nieder mit den Sozialfaschisten” vor dem Haus der Koechlins war Ausdruck dieses Konflikts. Hinter dem Begriff Sozialfaschismus stand eine von Stalin proklamierte These, der zufolge die Sozialdemokratie als linker Flügel des Faschismus ebenso bekämpft werden sollte, wie bürgerlich orientierte Organisationen. Die Sozialdemokratie galt als Verbündete der Bourgeoisie und gerade aufgrund ihrer nur vermeintlichen Nähe zum Kommunismus schien sie noch gefährlicher.
“Imperialistische Politik im Namen des Internationalismus, kapitalistische Politik im Namen des Sozialismus, Abbau der demokratischen Rechte der Werktätigen im Namen der Demokratie, Abbau der Reformen im Namen des Reformismus, Arbeitermörderpartei im Namen der Arbeiterpolitik [ … ]. Die Ziele der Faschisten und Sozialfaschisten sind dieselben, der Unterschied besteht in den Losungen und teilweise auch in den Methoden.”
Die Konfrontation zwischen den beiden linken Lagern war Ende der 1920er-Jahre und zu Beginn der 1930er-Jahre auf ihrem Höhepunkt. Als Kind einer sozialdemokratischen Familie fand sich Heiner Koechlin innerhalb der kommunistisch geprägten Nachbarschaft als Aussenseiter wieder: “Im innersten Winkel meines Herzens [wäre ich] gern auf der anderen Seite dieser Barrikade gestanden.”

Fussnoten inkl. Quellenangaben wurden nicht übertragen. Sie finden diese im Buch.