Der Architekt Martin Maleschka verliert die Orte seiner Kindheit. Drei Häuser aus seiner frühen Erinnerung sind bereits dem Abrissbagger zum Opfer gefallen: Plattenbauten. Also griff er sich seine Kamera, seit 2005 hält er Plattenbauten in ganz Ostdeutschland fest – und rettet sie so zumindest ein wenig vor dem Verschwinden. Mehr als tausend hat er bereits in seiner Sammlung. Maleschkas Erklärung: “Ich hatte stets eine enge Verbindung zur Platte.”
Damit geht es ihm ähnlich wie Millionen anderer ehemaliger DDR-Bürger. Bis 1990 hatte ihr Staat etwa 1,8 Millionen Neubauwohnungen in Plattenbauweise errichtet, der Wohnungsbau war seit den 1970er Jahren das Kernstück des Sozialprogramms unter Erich Honeckers Ägide. Zentrale Idee war es, die vier Wände zu schaffen, die alle mit gleichem Stolz erfüllten: den Chemiker ebenso wie die Kassiererin oder die Journalistin – alle sollten vollkommen demokratisch auf der gleichen Quadratmeterzahl leben. Plattenbauten standen für Fortschritt in der DDR, und die Siedlungen verkörperten den Erfolg der SED-Wohnungspolitik. Sauber, modern, trocken.
Doch nach der Wende wurde ausgerechnet die Platte zum grauen Symbol für das genaue Gegenteil: das Scheitern des Realsozialismus. Die Platte war nun das Schreckensbild des standardisierten Wohnens in deprimierenden, langsam verfallenden Betonwüsten, mit endloser Stapelung und Aneinanderreihung des immergleichen Grundrisses. Viele ihrer früheren Bewohner zogen fort, vor allem aus jenen Neubaugebieten, die gezielt um Industriestandorte herum angelegt worden waren – die nun ausgedient hatten. Auf der Suche nach Arbeit gingen sie in die größeren Städte oder gleich ganz in den Westen, zurück blieben vor allem alte Menschen und sozial Schwache. Der massive Leerstand wurde zunächst mit Abriss bewältigt, allein in Thüringen verschwanden bis 2010 über 42.000 Wohnungen. Zu früh, sagt man heute in Städten wie Erfurt, wo die Nachfrage nach Wohnraum nun groß ist. Und auch die Menschen, die wie Martin Maleschka an der Platte hängen, beklagen ihren übereilten Untergang.
Immerhin war die Plattenbauweise eine Antwort auf drängende Fragen ihrer Zeit. Der Historiker Robert Liebscher hat ein Buch zur Kulturgeschichte des Plattenbaus geschrieben. Dessen Erfindung beschreibt er darin als “das Zusammenspiel aus der Idee des vorproduzierten Bauens mit Beton und dem Motiv, die soziale Wohnungsfrage zu entschärfen”. Der Ansatz, möglichst viele Menschen in vorgefertigten und dadurch kostengünstigen Siedlungen unterzubringen, entstand während der Zeit der Moderne. Beton schien wie geschaffen für diese vorgefertigte Bauweise: feuersicher, resistent und formbar.
Nicht wenige schieben die Schuld für diese Entwicklung vor allem einem Mann in die Schuhe: Le Corbusier. Der einflussreiche Architekt galt für so manch einen als “Vater aller Verfehlungen moderner Vorstadt-Architektur”. Jahrelang spann er an Ideen wie dieser: in Paris rechts der Seine einen Großteil des historischen Stadtkerns zu zerstören, um in dem Gebiet dann rationaler und rechtwinkliger Wolkenkratzer für Zehntausende Bewohner zu bauen. Seine für viele furchterregenden Konzepte und Skizzen der Stadt der Zukunft spiegelten sich indirekt in so manchen Projekten der DDR wider: Enorme Plattenbau-Trabantenstädte wie die großen Thüringer Plattenbaugebiete für bis zu 50.000 Einwohner – Erfurt-Nord, Erfurt-Südost, Neulobeda in Jena oder Lusan in Gera – hätten Le Corbusier vom Konzept her sicherlich gefallen.
Jene Reißbretter, an denen sie geplant wurden, kennt Martin Maleschka noch gut aus seiner Kindheit: Sein Großvater entwarf als technischer Zeichner Platten, sein Vater baute sie. Maleschka, auf seine ganz eigene Art in der Tradition der beiden Männer, wird nun zu ihrem Dokumentar, zeigt sie in ganzen Komplexen, streng, sachlich fotografiert oder aber in Detailausschnitten. Darin verschwimmen die Muster und Mosaiken auf den Fassaden zu reizvollen, abstrakten Rastern. Bildende Kunst war in der DDR nicht nur Beiwerk, sondern integraler Teil der Architektur. Manche Werke sind geblieben, etwa das gut hundert Meter breite Wandbild des Künstlers Erich Enge, das sich in harmonisch leuchtenden Farben über die Fassade des Bibliotheksgebäudes im Erfurter Ortsteil Rieth zieht.
Den einen Typ Platte gibt es nicht. Monotonie mag ihr Image sein, es gab dennoch eine Vielzahl von “Wohnungsbauserien”, kurz WBS. Das Plattenportal “Jeder Quadratmeter du” zeigt beispielhaft zehn weit verbreitete Varianten von der “Einheitsplatte” WBS 70 über die “Berliner Querplatte” QP 59/61/64 zum “Offenen Wohnen als Experiment” P2. Gerade für den Bau von Schulen sehr beliebt war der Typ “Erfurt TS 75”: zwei Riegel verbunden durch einen Mittelgang, der Grundriss ähnelt einem H. Jeder Plattentyp hatte seine eigene Funktion, seine Vor- und Nachteile, sein Stammgebiet. Die Stadt Erfurt etwa hat ihre ganz eigenen Platten, die Bestseller P2 und WBS 70 sind hier kaum zu finden.
In Leinefelde setzte man vor allem auf den Klassiker WBS 70, als ab Anfang der 1960er Jahre in Rekordzeit Tausende von Wohnungen gebaut werden mussten. Das beschauliche Örtchen im Nordwesten Thüringens wandelte sich innerhalb weniger Jahre zum wichtigen Standort der Textil- und Zementindustrie. Lebten hier 1960 rund 2.600 Menschen, waren es 1989 über 16.000. Leinefelde wurde zur “sozialistischen Musterstadt” der DDR: eine Industriestadt aus der Retorte, 90 Prozent der Wohnungen waren Plattenbauten. Auch diese leerten sich nach der Wende drastisch.
So rückten in Leinefelde, wie an vielen anderen Orten zu Beginn der 1990er Jahre, die Abrissbagger an – hier allerdings mit einem deutlich anderen Plan: Sie sollten die Platten erhalten, nicht zerstören. Das Experiment, den dortigen Gebäudekomplexen eine radikale Frischkur zu verpassen und somit auch eine Lebensverlängerung, fand weltweit Anerkennung. Akteure bei diesem Experiment waren neben dem Münchner Architekten Muck Petzet auch Stefan Forster und sein Frankfurter Büro: “Für uns war es eine Art wissenschaftliche Arbeit über fast 10 Jahre und mit sieben Projekten vor Ort”, erzählt Forster. Die Architekten warfen einen Blick auf die sogenannten Shrinking Cities, die mit dem demografischen Wandel im Osten “schrumpfenden Städte”. Und beschlossen: “Anstatt diese ja oft übermenschlich großen Wohnkomplexe einfach abzureißen, holten wir sie durch Reduktion in menschlichere Dimensionen zurück.”
Forster und sein Team reduzierten das Volumen der Bauten, nahmen zum Teil obere Etagen weg, da die sich ohne Aufzug nicht gut vermieten ließen. Ein weiterer Schlüssel des Erfolges war der Fokus auf das Wohnumfeld – es spielt eine entscheidende Rolle für das Wohngefühl der Menschen. “Indem wir die Fläche im Erdgeschoss vor und hinter den Häusern auf Hochparterre-Niveau anhoben und Gärten entstehen ließen, kam sofort Leben in die Siedlung. Es ging darum, Gebäude und Natur dicht ineinander fließen zu lassen”, sagt Forster. Die 2004 fertiggestellte Stadtvilla “Haus 07” war unter den sieben realisierten Projekten das radikalste: Ein 180 Meter langer Baukörper wurde durch den Rückbau von sieben Zwischensegmenten und einem Geschoss in einzelne Häuser verwandelt. Konsequenter konnte man in die bestehenden Gebäude kaum eingreifen. Und trotz der hohen Umbaukosten, so die Architekten, sei die Transformation immer noch günstiger als ein vergleichbarer Neubau.
Auf Verkleinerung statt Abriss setzte man auch im süd-thüringischen Rudolstadt: Die ehemalige fürstliche Residenz beteiligte sich 2002 am Bundeswettbewerb “Stadtumbau Ost – für lebenswerte Städte und attraktives Wohnen”, indem sie nur gut die Hälfte ihrer Satellitensiedlung abreißen ließ. Denn: Die Wohnungen mit Aussicht ins Grüne waren gut vermietet, während im Innern großer Leerstand herrschte. Was kein Wunder war: Man muss sich dort gefühlt haben wie in einer Trutzburg – obwohl man inmitten malerischer Natur lebte. Die Strategie der Architekten: Etagen abtragen, Gärten anlegen, den Blick in die Landschaft lenken.
So wie dort wird heute vielerorts zumindest ein Teil der einst schweißtreibend montierten Platten wieder auseinandergebaut. Doch was dann? In der Regel taugt die Platte nun höchstens noch als zermahlener Schotter im Straßenbau. Mit etwas Glück allerdings erwartet sie ein zweites Leben in den Projekten von WBK 21. Die Thüringer Architektengruppe beschreibt ihren Fokus im Namen: WBK stand in der DDR für Wohnungsbaukombinat, die 21 bezieht sich auf das derzeitige Jahrhundert und das Bestreben, Baumaterial zu retten und seine Nutzung zu verlängern. Für einen Kunden aus Leinefelde entwarf WBK 21 aus Abrissplatten ein Einfamilienhaus mit elegantem Oberlicht. Im rund 130 Kilometer entfernten Mellingen entstand aus früheren Platten eine minimalistische Trauerhalle.
Kritiker sehen das Platten-Recycling zwar als unrentable Spielart, die im großen Stil nicht zu realisieren ist, dennoch trägt es dazu bei, dass der Blick auf die Platte entspannter geworden ist. An die Stelle der Negativität tritt die Neugierde, die Platte wird zur Kultimmobilie: Hier feiern junge Kreative zu bezahlbaren Mieten die zeitlose Reduziertheit, holen die Raufasertapeten von den Wänden und zeigen ihren nackten Beton, dazu orangefarbene Panton-Stühle und Fifties-Sofas. Plötzlich wird der Charakter dieser besonderen Architektur geschätzt, werden Gebäude behutsamer saniert. Gelungene jüngere Beispiele, wie ein Kindergarten in Erfurt, ein Gymnasium in Jena oder eine Grund- und Gemeinschaftsschule im Südostzipfel Thüringens, in Tanna, vermitteln eine selbstbewusste, zeitlose Sachlichkeit, die ihren Ursprung nicht mehr zu verstecken versucht.
Und die Platte der Zukunft? “An der arbeiten wir, genauer gesagt, an einem Wohnbaukasten der Zukunft”, sagt Tobias Haag von der Internationalen Bauausstellung Thüringen. Man wolle lernen von der Platte, von ihrer industriellen Standardisierung und dennoch neue Wege gehen. “In Zeiten von Industrie 4.0 muss nicht alles identisch aussehen. Durch ein modulares Angebot und verschiedene Möglichkeiten, Elemente zusammenzufügen, kann man in großer Vielfalt und doch günstig bauen. Jenseits der Monotonie.”