New York, London und Paris, aber auch Zürich, Genf und Basel erstarren im eigenen Erfolg. Zum Glück werden neue Konzepte entwickelt, welche die Stadt der Zukunft wieder lebendig und nachhaltig machen. von Philipp Löpfe, Quelle Watson
Selbst für die NZZ ist Zürich eine langweilige Stadt geworden. Aus der ehemaligen «Geld-Macher-Stadt» sei eine «Geld-Verwalter-Stadt» geworden, klagte jüngst Thomas Sevcik, Mitinhaber des Think-Tanks Arthesia, auf der NZZ-Meinungsseite. Diese Stadt sei kein «Laboratorium für Neues» mehr, sondern immer mehr ein Ghetto für Reiche.
«Die Experimente und Konflikte finden auch in Zürich längst nicht mehr in den mittlerweile gesäuberten Aussenquartieren statt, sondern in der eigentlichen Agglomeration: Schräge Bars, merkwürdige Konzepte, aber auch beissende gesellschaftliche Realitäten gibt es heute im problembehafteten Schlieren, im multikulturellen Opfikon oder im boomenden Zug», stellt Sevcik fest und konstatiert:
Tatsächlich hat sich das Image der Städte in den letzten Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Noch in der 90er Jahren sprach man von A-Städten, und das A stand dabei für: Alkohol, Armut und Asylanten. Der Mittelstand floh in die Agglo, die Städte drohten zu verslumen.
Heute ist das urbane Lebensgefühl wieder chic geworden. Die Städte werden gentrifiziert mit dem Resultat, dass sich die neuen Wohnungen nur noch Reiche, Singles und kinderlose Paare leisten können. Der Mittelstand flieht nicht mehr aus der City, er wird aufs Land verdrängt.
Auch in der sich abzeichnenden Luxusstädte-Wüste lassen sich jedoch Oasen ausmachen. In Zürich beispielsweise gibt es Wohngenossenschaften wie Karthago, Kraftwerk und neuerdings die Kalkbreite, die eine andere Form des Zusammenlebens erproben. «Einzelne Vorzeige-Objekte reichen nicht», sagt Hans Widmer, «wir brauchen nachbarschaftliche Quartiere.»
Widmer ist besser bekannt als «P. M.». Unter diesem Pseudonym hat er schon 1983 ein Buch mit dem Titel «bolo’bolo» veröffentlicht. Inzwischen ist er der wohl bekannteste Experte für alternative Wohn- und Lebensformen in der Schweiz.
Eine kürzlich veröffentlichte Schrift «Nachbarschaften entwickeln!» wurde von ihm mitverfasst. Darin wird aufgezeigt, dass es möglich ist, mit sozial und ökologisch integrierten Nachbarschaften die Ziele einer 2000-Watt-Gesellschaft zu erreichen und gleichzeitig die Lebensqualität der Menschen zu erhöhen.
Was «Nachbarschaften entwickeln!» konkret bedeutet, will die Bau- und Wohngenossenschaft Nena1 rund um den Limmatplatz in Zürich aufzeigen. Das Konzept beruht auf verschiedenen Modulen. Zuerst kommt die Wohnung. Die Hälfte der Stadtwohnungen wird heute von Einzelpersonen belegt. Sie leben oft in Drei- oder gar Vierzimmerwohnungen. «Wenn es gelingt, diesen Personen attraktive
1-bis-2-Zimmerwohnungen anzubieten, dann kann allein durch Umziehen und Zusammenrücken eine ökologisch effiziente, kostengünstige Verdichtung ohne zusätzliches Bauen verwirklicht werden», heisst es in der Broschüre.
Das zweite Modul ist die Nachbarschaft. Sie besteht aus angrenzenden Gebäuden, in denen im Durchschnitt 500 Menschen leben. Die neue Überbauung Kalkbreite ist ein Beispiel dieser Art. In den Gebäuden gibt es nicht nur Wohnungen, sondern auch Restaurants, Gewerbeflächen, Läden, Kindergärten und Dienstleistungsbetriebe. «Solche multifunktionalen Nachbarschaften funktionieren am besten in urbanen Umgebungen», sagt Widmer.
Als alleinstehende Blöcke können solche Nachbarschaften jedoch ihr Nachhaltigkeits-Potenzial noch nicht ausschöpfen. Dazu braucht es das dritte Modul, das Quartier. Es umfasst 20 bis 40 Nachbarschaften, also 10’000 bis 20’000 Bewohner. Das Quartier ist somit gross genug um öffentliche Funktionen wie Schule, Verwaltung, Gesundheitsversorgung zu übernehmen. In jedem Quartier sollte es auch einen grösseren Platz oder Park geben.
Die Stadt schliesslich ist das vierte Modul. Während das Quartier für den gemütlichen Alltag zuständig ist, dient das Stadtzentrum dem Geschäft und der Kultur. Die in Reichtum erstarrten Städte sind immer weniger in der Lage, diese Funktion auszuüben. Nach Ladenschluss sterben sie aus, weil nur noch Luxusboutiquen und Anwaltspraxen die hohen Mieten aufbringen können. Die Städte brauchen daher eine Generalerneuerung, sie müssen neu gedacht werden.
Am besten beginnt man dabei mit der Nachbarschaft. Es geht dabei um mehr als «schöner wohnen». Eine Nachbarschaft kann kombiniert werden mit anderen Sektoren der Gesellschaft, beispielswiese mit der Landwirtschaft. Um 500 Menschen mit Grundnahrungsmitteln zu versorgen, reicht eine Agrarfläche von 80 bis 100 Hektaren. Ein grosser, diversifizierter Landwirtschaftsbetrieb kann somit eine Nachbarschaft zu einem guten Teil ernähren. «Die meisten Bauern, die wir anfragen, würden begeistert mitmachen», sagt Widmer.
Die Produkte werden in einem Lebensmitteldepot gelagert, eine aufwändige Verpackung ist unnötig. Wenn verschiedene Nachbarschaften zusammenspannen, wird die Auswahl erhöht und die Transportkosten gesenkt. «Dann stimmen Preis und Ökobilanz», sagt Widmer. Märkte und Bioläden sind zwar malerisch, aber nicht unbedingt nachhaltig.
Die Genossenschaft Nena1 schlägt vor, rund um den Limmatplatz in Zürich ein nachbarschaftliches Quartier in dieser Form zu verwirklichen. Die Voraussetzungen dazu sind gut. Es bestehen bereits Nachbarblöcke der geschilderten Art, die man zu einem Quartier verbinden könnte. Der Carparkplatz beim Bahnhof und das Areal der Kehrichtverbrennungsanlage an der Josefstrasse, die 2020 abgebaut wird, bieten Platz für weitere Blocksiedlungen.
In den 70er Jahren gab es verschiedene Versuche, den Traum einer ökologischen Lebensweise auf dem Land oder in abgelegenen Bergtälern zu verwirklichen. Die meisten dieser Experimente sind gescheitert.
Mehr Infos unter: neustartschweiz.ch und nena1.ch