Mycelium ist eine nachwachsende Ressource, die Plastik als Industriematerial ersetzen könnte. Ein Besuch an der ETH Zürich. , Infosperber
Sie sind etwas schwerer als Styropor, riechen nach Grossmutters Estrich und ihre Farbe erinnert an Vermicelle mit Rahm. Und sie bestehen aus nichts weiter als Agrarabfall und Mycelium, dem Wurzelwerk von Pilzen.
Noch liegen den Forschern der ETH Zürich wenige Ergebnisse zum Pilz als Baumaterial vor, doch Architekt Felix Heisel kommt schnell ins Schwärmen, wenn er von Mycelium zu erzählen beginnt. «Es ist ein extrem vielversprechendes Material, dessen Potenzial wir noch gar nicht richtig abschätzen können», sagt der 32-Jährige und zeigt auf die Prototypen im Regal.
Es sind Elemente so gross wie Backsteine, deren Textur jener von Holzspanplatten ähnelt. «Der Pilz kann unabhängig von Ort und Klima angebaut werden und ist deshalb fast überall auf dem Planeten anwendbar.» Zudem verfüge er über eine im doppelten Sinne positive Energiebilanz: Einerseits benötigt seine Produktion im Vergleich zur heutigen Bauweise mit Stahl und Zement kaum Energie, andererseits verrotte er nach dem Gebrauch wieder zu Erde. «Die Natur macht‘s uns vor», sagt Heisel. «Wir müssen nur beginnen, dies wieder zu sehen.»
Härter als Zement
Heisel und sein Team forschen also an der ETH an einem nachwachsenden Rohstoff, den die endliche Ressource Erdöl – für die Produktion von Plastik unabdingbar – ersetzen könnte. Und zwar im Bau von Häusern, Möbeln und Spielzeugen genauso wie als Verpackungs- und Isolationsmaterial. Ausserdem würde es den Transport praktisch überflüssig machen. Doch was genau ist Mycelium? Und wie soll ein Pilz die Allerweltsstoffe Plastik und Zement ablösen?
Philip Ross: Künstler und Erfinder (Foto: mycoworks)
Einer, der diesen Fragen seit Jahren nachgeht, ist Philip Ross aus San Francisco. Der Künstler und Erfinder hatte Ende der Achtzigerjahre beim Pilzesammeln im Wald beobachtet, wie sich Pilze von Bäumen ernähren und dabei ein dichtes Netz an Fasern bilden. Er ging zurück in die Küche seines Arbeitgebers, wo er in seinen Studentenjahren wirkte, begann jedoch bald darauf zu recherchieren und bei sich zu Hause Proben durchzuführen. In seinen Feld- und später Laborversuchen fand Ross heraus, dass Pilze Holz in Zellen transformieren und sich diese wiederum zu einem resistenten Netz verweben. «Dieses ist derart dicht und fest, dass die Zellverbindungen härter sind als Zement», sagt er. Wie resistent Mycelium ist, demonstriert der 50-Jährige in einer Kurzdoku, finanziert von einem Autohersteller. Darin zerquetscht er mit einem Ziegelstein aus Pilzen einen Becher aus Metall. Auch ist zu sehen wie Mycelium im Vergleich zu Zement weniger schnell zerbricht und sogar schwimmfähig ist.
Im Ofen gebacken
Die Herstellung eines Pilz-Backziegels ist ziemlich simpel. Zuerst suche man einen geeigneten Pilz, etwa den glänzenden Lackporling, den Philip Ross hauptsächlich verwendet. Es kann aber auch ein anderer Pilze sein, etwa der Austernpilz oder der Zitronen-Seitling. Mycelium produzieren sie alle. Man schneide das Pilzgewebe in ein Glas und reichere dieses mit Leckereien wie Agrarabfällen, Holz, Stroh, Baumwolle, Katzenfutter, Zucker oder Energydrinks an. «Der Pilz ist da nicht so wählerisch», sagt Ross. Entscheidend ist eine ausgewogene Ernährung mit genügend Calcium, Proteinen und Vitaminen. Man lasse das Mycelium drei bis sieben Tage wachsen und leere es dann in die gewünschte Backziegelform.
Für den darauf folgenden einwöchigen Trocknungsprozess klopfe man es wieder aus der Form. Um die noch lebenden Zellen abzutöten, backe man es zum Schluss im Backofen. «Sonst», sagt Ross, «wächst der Pilz einfach weiter.» Ganz ohne zusätzliche Energie kommt der Pilz-Backstein also nicht aus. Wenn nämlich zwei ungebackene Mycelium-Backsteine 24 Stunden aufeinanderliegen, dann wachsen sie einfach zusammen – und machen jegliche Form synthetischen Bindemittels überflüssig. Dies zeigt sich an den Prototypen, die der US-Amerikaner der ETH zur Verfügung gestellt hat.
Stühle aus Pilzen
In New York hat sich mit «Ecovative Design» bereits eine Firma etabliert, die seit Ende der Nullerjahre kompostierbares Verpackungsmaterial produziert, etwa für den Versand von Computern. Auch Möbel, Lampen und Wanddekorationen werden mittlerweile aus Pilz hergestellt; an Schuhsolen und Yogamatten arbeitet das Start-Up noch.
Philip Ross selbst und seine Firma «Mycoworks» produziert und verkauft exklusive Pilz-Stühle. Auch wurden in der Bucht von San Francisco vorübergehend Schiffsbojen aus Mycelium eingesetzt und im Kindermuseum San Diego dienten die Pilze als Setzbausteine. «Konkurrenzfähig ist Mycelium allerdings noch nicht», sagt Ross. Dazu müssten nicht nur kulturelle Hürden überwunden werden, «schliesslich bringt man Pilze schnell mit etwas Gruseligem in Verbindung, das man sich nicht als Möbel oder Hauswand vorstellen kann».
Die Gesellschaft habe sich ausserdem auf eine Ressource eingeschossen und sei entsprechend abhängig und verletzlich. Ross meint das Erdöl. Dieses hält den globalisierten Laden auch im 21. Jahrhundert quasi taubstummblind am Laufen – mit Benzin, Plastik, Pestiziden, mit Asphalt, Parfüms und Kondomen.
Hin zur Kreislaufwirtschaft
«Kriege um Rohstoffe sind längst ein Thema», sagt Felix Heisel von der ETH Zürich und erwähnt Kupfer und Sand als Beispiele. Inzwischen gebe es mehr Kupfer in den Städten als in den noch vorhandenen Minen. Und gemäss Berechnungen des deutschen Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie sind diese Reserven in 24 Jahren aufgebraucht. Ähnlich ist es beim Sand: In Südostasien sind in den vergangenen Jahren ganze Inseln verschwunden, weil vor allem die Bauindustrie nicht auf Sand verzichten kann. Denn beim Sand ist es wie beim Erdöl – er findet sich in vielen Produkten, darunter Elektronik, Glas, Gummi, Porzellan oder Zahnpaste. Nicht nur deshalb sei es höchste Zeit umzudenken, sagt Heisel: «Von der Wegwerfwirtschaft hin zur Kreislaufwirtschaft.»
ETH-Forscher: Felix Heisel und Dirk Hebel (Foto: Kilian J. Kessler)
Was das bedeutet, veranschaulicht Heisel am Beispiel der Bauindustrie: diese produziere, verbrauche und werfe weg. «Dabei sollten wir uns bereits vor der Produktion fragen, was mit dem Material passiert, wenn es seinen Zweck einst erfüllt haben wird.» Eine Frage, die nicht nur die Bauindustrie betrifft und auf die Heisel an der ETH zusammen mit über einem Dutzend anderen Forschern nach Antworten sucht. Das Team um Professor Dirk Hebel besteht aus Architekten, Bau- und Bioingenieuren, Material- und Energiewissenschaftlern und aus Holztechnikern. «Unsere Forschung ist heute derart schnell, weil wir interdisziplinär arbeiten», sagt Heisel, der zuvor in Äthiopien und Singapur gewirkt hatte. Mit beiden Ländern steht die Professur von Dirk Hebel in engem Kontakt.
Forschung noch am Anfang
Die Forscher sind daran Methoden zu entwickeln, mit denen bestehende Materialien wie etwa Bauschutt noch besser wiederverwendet werden können. Andererseits untersuchen sie nachwachsende Ressourcen auf ihre Baufähigkeit, darunter Bambus, Bakterien und eben Pilze.
Bei den Pilzen steht man allerdings noch ganz am Anfang. Felix Heisel und seine Leute haben erst Versuche zur Zug-, Druck- und Biegefähigkeit von Mycelium durchgeführt. «Die Herausforderung wird sein, ein Produkt zu entwickeln, das sich auch im Alltag verwenden lässt», sagt Heisel. Dazu müsse man erst verstehen lernen, wie der Pilz überhaupt funktioniere.
Heisel führt noch einen besonderen Pilz-Backstein vor. Dieser kommt aus Long Island, New York. Dort wurden vor zwei Jahren drei 13 Meter hohe Türme aus Mycelium gebaut. Inzwischen liegen die meisten der rund 10’000 Steine in den Urban-Gardening-Gärten – als Kompost.