Das erste Settlement der Schweiz

 Die internationale Settlement-Bewegung, die im ausgehenden 19. Jahrhundert in die Grossstädte Europas, Nordamerikas und Asiens ausstrahlte, wirkte sich auch in der Schweiz aus.
Mit dem Gartenhof in Zürich Aussersihl und mit der Ulme im Basler Klybeckquartier entstanden auch in schweizerischen Armenquartieren solche Niederlassungen wohlhabender und gebildeter Leute. Die Basler Gründung wurde von der historischen Forschung am Rande zur Kenntnis genommen. Sie galt bisher als einzige soziale Einrichtung dieser Art in der Schweiz. Dass aber auch der Zürcher Gartenhof in seinen Anfängen ein Settlement war und noch vor der Ulme entstand, wurde bisher übersehen.

Gartenhof 1und 7,  Zürich
Gartenhof 1und 7, Zürich

GanzerArtikel als PDF,  Artikel aus Friedenszeitung Nr.6, 2013

Ende des 19. Jahrhunderts entstanden in zahlreichen Armenquartieren europäischer, amerikanischer und asiatischer Grossstädte so genannte Settlements (Siedlungen). Diese Settlements waren Niederlassungen wohlhabender und gebildeter Frauen oder Männer, die in ihrer neuen Nachbarschaft einen «fremden Kontinent», das Proletariat, kennen lernen und dieses mit Jugend-, Bildungs- und Sozialarbeit unterstützen wollten.

Die internationale Settlement-Bewegung

Die international vernetzte Bewegung hatte ihren Anfang 1884 mit der Gründung der beispielhaften Toynbee-Hall im Londoner Whitechapel-Quartier genommen. Ein anderes oft als Vorbild dienendes Beispiel war das Hull House, das die spätere Friedensnobelpreisträ- gerin Jane Addams 1889 in Chicago gegrün- det hatte. In Berlin entstand 1911 unter der Leitung von Friedrich Siegmund-Schultze die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost (SAG). Bei der ersten Internationalen Konferenz der Settlements, die 1922 in London stattfand, waren neben der Toynbee-Hall, Hull House und der SAG über hundert weitere Settlements aus elf Ländern vertreten.

Das Netzwerk der Settlement-Bewegung reichte auch in die Schweiz. So hatten Mentona Moser und Maria Fierz, welche 1907 in Zürich den ersten Kurs für Sozialarbeit durchführten, um die Jahrhundertwende Praktika in einem Londoner Settlement absolviert. Moser hatte auch darüber publiziert und die Settlements als alternative Form der Sozialen Arbeit propagiert. 1922 trug Siegmund-Schultze sein Konzept «zum Aufbau der neuen Volksgemeinschaft» an der 26. Studenten-Konferenz in Aarau vor. Die Nachrichten der SAG an ihre Freunde und Gönner gingen auch an ein Dutzend Adressen ist der Schweiz.

Die Verbindungen der internationalen Settlement-Bewegung in die Schweiz hatten Folgen. Im Zürcher Aussersihlquartier und im Basler Klybeckquartier entstanden in der Zwischenkriegszeit ebenfalls solche Siedlungen. Beide wurzelten im religös-sozialen Milieu der 1920er Jahre.

Der Gartenhof als Settlement

Die Ulme im Klybeck war nicht das erste und einzige Settlement der Schweiz, wie die historische Forschung bisher annahm. Bereits 1919 hatten Gertrud Rüegg und ihre Freundin Milly Grob an der Gartenhofstrasse 1 in einem Zürcher Arbeiterquartier Wohnsitz genommen und unter jungen Arbeiterinnen eine Art Klubarbeit, wie sie für viele Settlements typisch war, begonnen. Rüegg, 1889 geboren, «war inmitten eines grossen Reichtums aufgewachsen, aber seiner nicht recht froh geworden», meinte Leonhard Ragaz, der sie gut kannte. Trotz schwacher Konstitution und an- geschlagener Gesundheit habe sie Heim und Park am rechten Seeufer verlassen und sei ins proletarische Aussersihl gezogen.

Rüegg und Grob waren Mitbegründerinnen des Vereins Frauenarbeit Gartenhof, in dem auch Maria Fierz und Martha von Meyenburg, die Leiterin der Sozialen Frauenschule in Zürich, mitmachten. Der Verein verfolgte den Zweck, die Notlage der Arbeiterfrauen zu erleichtern und Lücken in der Ausbildung junger Frauen zu decken. Er organisierte einen Kinderhort, bot hauswirtschaftliche Kurse an
vermittelte Ferienaufenthalte im Toggenburg und eröffnete Mädchenklubs.

Das erste Settlement in der Schweiz

Konkurrenz der religiössozialen Herren

Ragaz’ Gartenhof berief sich nicht wie die Ulme auf Siegmund-Schultzes SAG. Es gab wohl auch zwischen Zürich und Berlin Kontakte. So trafen sich Ragaz und Siegmund-Schultze im Rahmen des Internationalen Versöhnungsbundes, dem sie beide als international aktive Mitglieder angehörten. Oder sie sahen sich beispielsweise an der christlichen Studenten-Konferenz in Aarau 1922. Auch setzte sich Ragaz für Marta Voellmy ein, die im Gartenhof mitarbeitete und sich in Berlin bei der SAG um eine Praktikumsstelle bewarb.5

Doch so eng wie zwischen der Ulme und der SAG wurden die Beziehungen nicht. Auch fand der Gartenhof keinen Anschluss an die internationale Settlement-Bewegung. Eine Teilnahme des Gartenhofs an deren Konferenzen lässt sich nicht belegen. Diese Distanz entsprang wohl der gegenseitigen Animosität, die zwischen den beiden einflussreichen Männern der internationalen religiös-sozialen Bewegung herrschte. Er «hasse ihn beinahe», schrieb Ragaz über den an anderer Stelle als «allgegenwärtigen Professor» bezeichneten Siegmund-Schultze. Und wie Willi Kobe von diesem persönlich erfuhr, beruhte die Ablehnung «auf ausgewogener Gegenseitigkeit».

Volkshochschulheim für Mädchen

War im Gartenhof der Freundinnen Rüegg und Grob die Jugendarbeit mit den Mädchen im Zentrum gestanden, so stellten Ragaz und seine Freunde nun die Arbeiterbildung in den Mittelpunkt. Während der ersten Zeit schienen die Mädchenklubs der alten Gartenhof- arbeit noch weiter gelaufen zu sein. Jedenfalls berichtet der Rückblick, den Gertrud Rüegg 1926 in den ‘Neuen Wegen’ publizierte, von keinem Ab- oder Einbruch der Mädchenarbeit. Doch mit der Zeit verlagerte sich diese ins Heim Casoja auf der Lenzerheide. Dort hatte Gertrud Rüegg inzwischen ein «Volkshochschulheim für Mädchen» gegründet und ein Haus errichten lassen, in dem die zunächst bescheiden in einer einfachen Unterkunft durchgeführten Kurse bald unter besseren Voraussetzungen stattfinden konnten. Gertrud Rüegg übernahm dessen Leitung: «In diesem Haus ist nun das Werk weiter getan worden. Es bestand […] aus Kursen, die, äusserlich in Form von Haushaltsungskursen oder auch von Ferienkursen, wesentlich, aber ohne das zu affichieren, den Zielen der religiös-sozialen Be- wegung dienten.»

Auch der Kinderhort und die hauswirtschaftlichen Kurse des alten Gartenhof fanden eine Fortsetzung. Die Nähkurse des Vereins Frauenarbeit Gartenhof wurde ab Mitte der 1920er Jahre von der Stadt Zürich subventioniert. Der Hort diente dabei dazu, die Mütter, welche die Nähkurse besuchten, in dieser Zeit von der Beaufsichtigung ihrer Kinder zu entlasten. Auch allgemeinbildende Kurse wurden weiter angeboten. Doch die anfängliche Nähe zwischen den beiden Gartenhof-Projekten, die in erster Linie über Rüegg und Grob gelaufen zu sein scheint, ging verloren. So eng das Verhältnis zwischen Gertrud Rüegg und Leonhard Ragaz in Casoja blieb, so weit gingen seine Ar- beit und diejenige der Frauenarbeit Gartenhof in Aussersihl auseinander.

Hilfe zur Selbsthilfe: Die Nähkurse

Der Verein Frauenarbeit Gartenhof existiertebis1969. Er hatte seine Liegenschaft Gartenhofstrasse 1 bereits Jahre vorher veräussert und war umgezogen. Bis zuletzt standen die städtisch subventionierten Nähkurse im Zentrum. Auch personell hatte sich wenig verändert. Bei seiner Auflösung war noch immer M. Landolt Präsidentin, welche die Nähkurse bereits zu Beginn der 1920er Jahre geleitet hatte. Wie stark sich dieser Zweig der Frauenarbeit Gartenhof von Rüeggs Ansätzen in der Mädchenarbeit entfernt hatte, zeigt sich beispielsweise im Selbstverständnis, das der Verein in seinem Jahresbericht 1960/61 zum Ausdruck brachte.

Danach verfolgte der Verein noch immer soziale Zwecke und wollte zur «Selbsthilfe […] minderbemittelter Hausfrauen» anleiten. Doch in den Kursen blieb das Zuschneiden der Stoffe explizit «ausschliesslich in Händen der Kursleiterin». Die Kursteilnehmerinnen konnten «unter sorgfältiger Anleitung» lediglich vernähen, was ihnen die Kursleiterin zugeschnitten hatte. Den Frauen den sparsamen Umgang mit den Stoffen beim Zuschneiden ebenfalls beizubringen, lag jenseits dessen, was der Verein Frauenarbeit Gartenhof unter Anleitung zur Selbsthilfe verstand.

Auch in Casjoa verloren Ragaz und die Religiös-soziale Vereinigung mit der Zeit an Einfluss. Zwar traten mit Christine (Dieterle-) Brugger und anderen noch einige Heimleiterinnen das Erbe Gertrud Rüeggs an, die mit der Vereinigung und den ‘Neuen Wegen’ in engem Kontakt standen. Doch musste Ragaz in seinen Lebenserinnerungen enttäuscht zur Kenntnis nehmen, dass sein Einfluss auf das Werk geschwunden war. 1946 – ein Jahr nach Ragaz’ Tod – ging das «Volksschulheim für Mädchen» in den Besitz der Töchterschulen der Stadt Zürich über.

 

Ruedi Epple, Dr. phil. , Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte in Konstanz,; Basel und Zürich. Ehemaliger Mitarbeiter der Forschungsstelle Baselbieter Geschichte und des Bundesamtes für Statistik. Heute als Lektor Dozent am Studienbereich Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit der Universität Fribourg. Mitautor von “Nah dran, weit weg: Geschichte des Kantons Basel-Landschaft” {Liestal 2001: KantonsverlagJ und von “Stifter – Städte – Staaten: Zur Geschichte der Armut, Selbsthilfe und Unterstützung in der Schweiz 1200-1900” (Zürich 2010: Seismoj.