Zürich-West und der urbane Albtraum

Es gab eine Zeit, da stand Zürich-West in jedem Szenemagazin. Doch der kreative Charme von einst ist blanken Häuserfassaden gewichen. Vom Verschwinden eines kulturellen Schmelztiegels. von Florian Schoop, Fabian Baumgartner, NZZ

Gestylt und kühl: Der Zugang zur Hochschule der Künste unter den Bahnviadukten. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)
Gestylt und kühl: Der Zugang zur Hochschule der Künste unter den Bahnviadukten. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)

Als Geri Weibel mit seiner Clique in Zürich-West abhing, war es ein urbanes Industriequartier. Die jungen, versnobten Männer und Frauen aus Martin Suters berühmter Kolumne feierten hippe Partys in Fabrikhallen und tranken Mojitos in angesagten Bars. Und heute? Es ist kurz nach 23 Uhr. Vielleicht noch zu früh, vielleicht aber auch schon zu spät. Einzig vor den Klubs und Bars an der Hardstrasse und auf dem Gerold-Areal herrscht Betrieb. Doch sonst weht hier der Wind einsam um die blanken Häuserfassaden.

Ausgang für «Kulturgeniesser»

Das zeigt auch eine Studie, die der Verein Kulturmeile Zürich-West im vergangenen Jahr publizierte: Zwar locken die Hotels, Veranstaltungs- und Kulturinstitutionen durchschnittlich 12 000 Besucher pro Tag hierher. Allerdings beleben diese hauptsächlich das Gebiet um den Bahnhof Hardbrücke und den Escher-Wyss-Platz. Die Strassenzüge im Gebiet der unteren Hardturmstrasse und der Pfingstweidstrasse sind dagegen kaum frequentiert. «Tötelet» das Quartier also tatsächlich, wie die Macher des Klubs «Hive» kürzlich kritisierten?

Gegen diesen Vorwurf wehrt sich Christoph Gysi, Präsident der Kulturmeile Zürich-West und Inhaber des Gastrobetriebs «Les Halles». Die Abwanderung der Klubszene in den Kreis 4 an die Langstrasse sei zwar Tatsache. Dafür kämen heute andere Leute ins Quartier. «Das sind eher gutverdienende Kulturgeniesser», konstatiert Gysi. Das Viertel biete im Gegensatz zu früher einen «gesofteten» Ausgang. Und das sei gut so, findet Gysi: «Den Leuten, die zugedröhnt auf Koks aus den Klubs kommen, weine ich nicht nach.»

Die Abwanderung der Partyszene macht sich dennoch im Quartier bemerkbar. In seinem Büro auf dem Steinfels-Areal tippt Gysi mit dem Zeigefinger auf eine Grafik der Studie. Darauf sind verschiedene Zonen des Stadtteils abgebildet. Die farbigen Gebiete haben eine hohe Besucherdichte, in den weissen Zonen dagegen ist es leer. Es gebe zwar sehr wohl belebte Orte im Viertel, sagt der Gastronom. «Trotzdem besteht die Gefahr, dass der Kreis 5 zu einem reinen Arbeits- und Wohnquartier wird.» Tagsüber bevölkerten viele Büroleute das Quartier, «aber gegen 19 Uhr 30 brausen die dunklen SUV mit Zuger und Schwyzer Kennzeichen aus den Tiefgaragen und verlassen die Stadt.»

Zu Tode entwickelt

Das sieht der ETH-Professor und Stadtforscher Christian Schmid genauso. Er kritisiert die städtebauliche Entwicklung scharf: Die Stadt habe Zürich-West zu Tode entwickelt. «Es dominiert eine für Zürich typische, durchdesignte Biederkeit.» Das Schlimmste aber sei der angestrengte Versuch, diese Biederkeit zu kaschieren. «Blumenbeete und Gartenzwerge sind dabei einfach durch antiseptische Oberflächen und reflektierende Glasfronten ersetzt worden.»

Schmid fühlt sich an die 1980er Jahre erinnert. «Zürich-West galt damals als der antiurbanste Ort der Stadt», sagt er und ergänzt: «Diese Betonlandschaft war das Sinnbild für das kalte Zürich.» Dass hier einmal etwas entstehen könne, was das Quartier aus dem «urbanen Albtraum» reissen würde, sei lange undenkbar gewesen.

Doch genau das geschah: Verschiedene Szenen nisteten sich in den leerstehenden Fabrikhallen ein. Das einstige Hassobjekt wurde zum coolen Trash und somit zu einem Gegensatz zum kleinbürgerlichen Milieu. In jedem Szenemagazin habe man lesen können, dass das Quartier mit den alten, umgenutzten Fabriken der angesagteste Ort Zürichs war, sagt Schmid. «Da gab es das Schoeller-Areal an der Limmat, den ‹Glacegarten› auf dem Steinfels-Areal, aber auch Klubs wie die ‹Dachkantine›.»

Farbig und spontan: Partystimmung auf dem Gerold-Areal, im Hintergrund der Prime Tower. (Bild: Karin Hofer / NZZ)

Die plötzliche Beliebtheit des Viertels sprach sich aber nicht nur bei Szenekennern herum. Das Quartier stiess auf immer grösseres Interesse der Investoren. Man begann zu bauen – die Zwischennutzungen mussten weg. So auch das Schoeller-Areal, eine alte Textilfärberei an der Hardturmstrasse. Hier befindet sich heute die Überbauung Limmatwest. Viel Kreatives sei zerstört worden, sagt Schmid, «und dies hält bis heute an».

Als jüngstes Beispiel nennt er die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) auf dem Toni-Areal. Der Professor gerät in Fahrt: «Das ist ein völlig introvertiertes Gebäude, nach aussen ist es fast hermetisch abgeriegelt.» Die Tragik dabei sei, dass man mit dem Neubau der Kunsthochschule das Quartier beleben wollte. Das sei aber nicht gelungen. Im Gegenteil: Diese «überdeterminierte Situation», wie sie Schmid nennt, sei das Gegenteil von Urbanität, von Offenheit. Sie lasse keine Freiräume zu. Das Quartier gebe dem Besucher keinen Grund, dort zu verweilen. «Das Toni-Areal ist ein Beispiel, wie man es nicht machen soll: Das grosse urbane Potenzial dieser Hochschule kann gar nicht wirksam nach aussen ausstrahlen.»

Dem widerspricht Christoph Gysi. Er stellt der neuen Kunsthochschule ein gutes Zeugnis aus. «Da draussen kann es recht brummen.» Der Ausstellungsraum «Schaudepot» etwa wirke als Publikumsmagnet. «Die Besucher spürt man in ganz Zürich-West.»

«Immer noch attraktiv»

Das orange M der Migros Herdern hüllt in dieser Nacht die Pfingstweidstrasse in ein helles Licht. Sonst hinterlässt die dunkle Szenerie einen kalten, abweisenden Eindruck. Hier feiern, nein danke, sagen sich wohl viele, die früher in den angesagten Klubs der Toni-Molkerei ein und aus gingen. Unter einer massiven Betonrampe schimmern bunte Lichter des Klubs Mehrspur hervor. Vor dem Lokal stehen drei Burschen mit schicken Wollmützen und Instrumentenrucksäcken auf dem Rücken. Sie zünden sich selbstgedrehte Zigaretten an und blasen den Rauch in die kalte Nacht. In der Bar herrscht wenig Betrieb.

Im Moment befinde sich das Quartier in einer Übergangsphase, sagt Anna Schindler, Direktorin der Zürcher Stadtentwicklung. Man müsse dabei berücksichtigen, dass es noch nicht fertig gebaut sei. «Es fehlt beispielsweise an guten Fussgängerverbindungen zwischen den einzelnen kleinen Zentren im Quartier.» Zudem versuche die Stadt, die Struktur der verschiedenen kleinen Zentren im öffentlichen Raum und ihre Verknüpfung zu stärken. Dies könne man sicherlich noch verbessern.

Schindler ist jedoch überzeugt, dass das Quartier grundsätzlich funktioniert. «Zürich-West ist immer noch attraktiv.» Es werde nie zu einem langweiligen Wohn- und Büroquartier verkommen, wie die Kritiker befürchteten. Viele Steuerungsmöglichkeiten habe die Stadt aber nicht mehr, gibt sie zu bedenken. «Dazu besitzt die Stadt schlicht zu wenig eigene Grundstücke.» Man müsse aber auch berücksichtigen, dass bei der Planung in den neunziger Jahren von anderen Bedürfnissen ausgegangen worden sei, sagt Schindler. «Mit dem heutigen Freiraumbedarf würde man wohl mehr auch auf Kreativnutzungen wie im Gerold-Areal setzen.»

Für die Wiederbelebung des Quartiers gebe es nur eine Lösung, findet Stadtforscher Schmid: «Der öffentliche Raum soll wieder gebraucht werden dürfen.» Heisst: Um die klinische «Versiegelung» aufzubrechen und die «Intensivstation Zürich-West» zu verlassen, brauche es Räume, die nicht dem «helvetischen Perfektionismus» entsprächen, die gar verlottert sein dürften. Als gutes Beispiel nennt Schmid das Gerold-Areal. «Hier sieht man, was passiert, wenn man Räume nicht zentral programmiert, sondern unterschiedlichste Ideen und Initiativen zum Zug kommen lässt: Sie werden zu kreativen Inseln.»

Auch Gysi betont, dass nur der raue Charme das Quartier weiterbringen werde. Damit meint er den Industrie-Touch oder die «brick stones», wie er es nennt. Es brauche auch mehr Dreck. «Ballermann» wie auf Mallorca sei damit nicht gemeint, aber eine «moderate Dreckschleuder» sei gut.

Gysi hat auch schon eine Idee, welcher Ort diesen Charme in Zukunft verströmen könnte: das Kehrichtheizkraftwerk bei der Josefwiese. Es stellt 2020 seinen Betrieb ein. «Hier könnte etwa eine laute Konzerthalle rein, aber auch Handwerker oder kleine Läden.» Dem stimmt auch Schmid zu: «Ein perfekter Ort, den man sich selbst überlassen kann.» Beim Kehrichtheizkraftwerk laufen derzeit Abklärungen für die Nutzung nach der Stilllegung. Klar ist jedoch heute schon, dass ein Grossteil des Geländes weiterhin von der Stadt genutzt werden wird für Bedürfnisse der öffentlichen Infrastruktur. Ein Bereich solle aber frei werden für kreative Nutzungen, sagt Stadtentwicklerin Schindler. Sie setzt aber auch auf Eigendynamik im restlichen Quartier. Es gebe derzeit viele leerstehende Büroräume. Vielleicht verlagerten sich diese Zwischennutzungen ja einfach dorthin.

Kurz nach 2 Uhr: Während man in Zürich-West in fast jeder Bar noch einen Platz findet, muss man im Langstrassenquartier darum kämpfen, überhaupt ins Lokal zu kommen.

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