Warum kehren die Gärten zurück in die Städte?

Autoreninterview mit Christa Müller

Dr. Christa Müller ist Soziologin und Geschäftsführende Gesellschafterin der Stiftungsgemeinschaft anstiftung & ertomis sowie der Stiftung Interkultur. Sie forscht seit Jahren zu nachhaltigen Lebensstilen und neuen Wohlstandsmodellen. Urbane Gärten spielen dabei eine zentrale Rolle.

Hafengarten-1b
Bunte Gartenvielfalt im Offenbacher Wohn- und Industriegebiet

Was genau ist Urban Gardening?

Unter Urban Gardening verstehen wir die neuen Formen gemeinschaftlichen Gärtnerns mitten in der Stadt. Der größte Unterschied zu den traditionellen Kleingärten liegt darin, dass die meist jungen Gärtnerinnen und Gärtner sich nicht in ein privates Refugium zurückziehen, sondern bewusst „eine andere Stadt pflanzen“ wollen. Brachflächen, Parkgaragendächer und andere vernachlässigte Orte werden in eigener Regie in grüne, lebensfreundliche Umgebungen verwandelt. Der Garten ist nicht nur ein Ort der Selbstversorgung mit Obst und Gemüse, sondern auch des Lernens und der Kommunikation, z.B. mit der Stadtplanung oder der Nachbarschaft. Urbane Gärten sind offene Orte, alle sollen Zugang haben und erfahren können, woher die Lebensmittel kommen, was biologische Vielfalt bedeutet, wie man Saatgut selber reproduzieren kann, etc.

 Warum kehren die Gärten zurück in die Städte?

Wir beobachten eine neue Hinwendung zum Selbermachen und auch zur Natur in der Stadt. Die alten Unterscheidungen überzeugen nicht mehr: Man will einen urbanen Lebensstil, aber weder auf den Konsum reduziert sein noch auf Natur verzichten. Außerdem bieten die neuen Gemeinschaftsgärten Erfahrungsräume für postmoderne Ethiken. Lebensmittel sollen das Leben bereichern und die Lebensqualität erhöhen – aber nicht die Ausbeutung von Menschen und Tieren.

Was sind die Hintergründe des Booms?

Eine junge urbane Avantgarde reagiert höchst pragmatisch auf globale Herausforderungen wie z.B. die schwindenden Ölreserven. Es entstehen Orte, an denen gesunde Lebensmittel angebaut und zugleich Stadtnatur und Gemeinschaft erlebt werden. Man experimentiert mit Zukunftsthemen: neue Wohlstandsmodelle, Stadtökologie, Teilhabe, interkulturelle Begegnung und sinnvolle Beschäftigung in der Postwachstumsgesellschaft. In jedem Fall geht es um nahräumliche Lebensqualität. Durch diese neuen Praxen wird sich unser Verständnis von Stadt grundlegend wandeln.

Worin besteht der Reiz des Gärtnerns in der Stadt?

Was Städtern im Umgang mit Pflanzen so gut tut, ist die Begegnung mit der lebendigen Natur. Sie ist zum einen ein nicht-menschliches Gegenüber, und zum andern ermöglicht sie eine intensive Begegnung mit uns selbst. Gärten erfordern einen anderen Umgang mit Zeit und Raum. Sie befördern uns auf behutsame Weise ins Hier und Jetzt. Der Garten wird so zum Erfahrungsraum für die grundlegenden Zusammenhänge des Lebens. Das Säen, Ernten, Kochen und Weiterverarbeiten für den Winter sensibilisiert nicht nur für die Natur, sondern auch für einen Reality Check der Bedingungen, unter denen wir leben. Der Garten verortet uns in einem größeren Kontext als den der Konsumgesellschaft. Er verschafft Überblick.

Inwiefern versteht sich das gemeinschaftliche Gärtnern in der Stadt als politisch?

Die neuen urbanen Gemeinschaftsgärten sind eine Art Gegengewicht zum neoliberalen Regime. Sie reklamieren den öffentlichen Raum für das Gemeinwohl und sie setzen der Ökonomisierung der Gesellschaft Orte des Eigensinns und des selbstbestimmten Tuns entgegen. Mit dem Anbau von lokalen Nahrungsmitteln wird zudem ein Beitrag geleistet zum Erhalt von Sortenvielfalt und Ernährungssouveränität. Gärtnern ist außerdem ein sinnlicher und zugleich politischer Beitrag zu den Erfordernissen einer postfossilen Ökonomie und einer Postwachstumsgesellschaft.

Quelle: http://www.urban-gardening.eu/autoreninterview/