Die Wiedergeburt der Gartenlaube

Die Städter entdecken die Landwirtschaft: Auf Brachen, Hausdächern und sogar auf Verkehrsinseln wird Gemüse angepflanzt. Ansätze zur städtischen Selbstversorgung gibt es in den Schrebergärten schon lange. Was ist neu an der Bewegung und welche Bedürfnisse befriedigt sie?  Antworten im  Gespräch mit Isidor Wallimann und der Zeitschrift Zeitpunkt.

Gartenlauben
Foto: Marco Clausen

Zeitpunkt: Haben wir in unserer individualisierten Gesellschaft genug Gemeinschaft?

Isidor Wallimann: Das ist schwierig zu beurteilen. Individualisierung als Prozess wirkt seit Jahrtausenden. Es gab sie schon bei den Babyloniern und verstärkt bei den Griechen und Römern. Der Trend wurde natürlich durch die Arbeitsteilung und die neoliberale Globalisierung gewaltig beschleunigt. Aber auch der Wohlfahrtsstaat fördert die Individualisierung, denn die individuelle Sicherheit hängt immer weniger von der Familie und der Nachbarschaft ab und immer mehr von der staatlich organisierten Sozialpolitik. Mit ihr werden heute hauptsächlich soziale Risiken
gehandhabt. Ich kann irgendwohin migrieren, da meine Existenz auch ohne Familie gesichert ist. Die Instrumente, die Solidarität vermitteln, sind gleichzeitig auch die Instrumente, die Solidarität auflösen.

Die Frage ist nun: In welchem Ausmass braucht die westliche Gesellschaft, die um den Individualismus herum konfiguriert ist, trotz allem noch Kooperation?

Der Kapitalismus, unsere Gesellschaft, funktioniert nicht ohne eine riesige Menge von Kooperation und Gemeinschaft. Das bedingt gemeinsam akzeptierte Normen und Werte, Vertrauen, Vernetzung und ein gewisser Verzicht auf Individualismus. Die Wirtschaft und ihre Betriebe könnten ohne nicht funktionieren. In Firmen hat man
Teams, Kantinengespräche, Sportveranstaltungen – all dies trägt zur Gemeinschaftsbildung bei.

Es bleibt aber oft auf das Funktionale beschränkt und umfasst nicht den Menschen als Ganzes. Der amerikanische Philosoph und Motorradmechaniker Mathew Crawford fasst es so zusammen: Anstatt Gefühle zuhaben, geht man ins Sensitivity-Training.

Das ist verkürzt. In der modernsten Managementausbildung wird Teambildung gross geschrieben. Da werden sogar persönliche Konflikte, Kommunikation und Gefühle
thematisiert und reflektiert. Firmen können nur mit einer gemeinschaftlichen Kultur gut funktionieren. In Japan ist dies sehr ausgeprägt. Arbeit ist Gemeinschaft. Bei uns ist das weniger so, viele finden Gemeinschaft in der Freizeit

Meine Hypothese ist, dass auf menschlicher Ebene ein Manko besteht. Weil im beruflichen Alltag die menschlichen Kontakte einem Zweck untergeordnet und in den Wohnsilos kaum möglich sind, werden sie in anderen Bereichen bis zum Abwinken gepflegt, auf Facebook oder an Parties, an denen man sich ein ganzes Wochenende lang Körper an Körper reibt. Das ist doch nur ein Schein­ersatz. Das Manko bleibt.

(hier kein umbruch) Das kann man teilweise so sehen. Es gibt daraus aber auch Nebenwirkungen, es entstehen Beziehungen.

Kann man die urban gardening-Bewegung als Versuch verstehen, das Manko an echter Beziehung auszugleichen?

(hier kein umbruch)Man sollte von urban agriculture sprechen. Urbangardening ist «politischer Schwachstrom». Urban agriculture hingegen ist Teil der Umweltbewegung und will dazu noch Nahrungsmittelsouveränität. Es geht darum, die Trennung zwischen Stadt und Land durchlässiger machen. Jetzt werden die Lebensmittel irgendwo produziert und irgendwo konsumiert. Die Stadtbevölkerung will aber wissen, wohe­r ihre Lebensmittel kommen. Wer produziert was auf wessen Boden und zu welchen sozialen und ökologischen Bedingungen? Wird für unsere Lebensmittel Boden gebraucht, den die lokalen Bewohner eigentlich viel dringender für sich selber brauchen? In dieser Hinsicht gibt es schon viel Lebensmittelproduktion in der Stadt, oft allerdings ausserhalb der Umweltbewegung.

Die Schrebergärten?

Alle sozialen Bewegungen brauchen Treffpunkte. Dazu gehören in diesem Fall auch die Familiengärten. Ich plädiere sehr dafür, dass sich die alte Schrebergartentra-
dition mit urban agriculture verbindet. Aber es gibt da noch gewisse Hindernisse. Urban agriculture wird von Leuten aus der Mittelschicht betrieben, Familiengärten
eher von der traditionellen «Arbeiterschaft». Es gibt also Status- und Schicht-Unterschiede. Zudem werden Familiengärten von Vereinen getragen, während urban agriculture auch von spontanen Aktivitäten geprägt ist. Schliesslich gibt es in den beiden Bereichen unterschiedliche Vorstellungen von Mein und Dein. Urban agriculture hat viel weniger Zäune als die Schrebergärten. In den Familiengärten treffen sich unglaublich viele Ethnien, man tauscht sich aus, kontrolliert sich auch
– eine unglaublich hohe Leistung der multikulturellen Integration. Viele meinen, dass Multikulturalität nicht zu viel Dichte erträgt. Die Familiengärten beweisen das Gegenteil. Da ist der Kroate, ein paar Meter weiter der Schweizer und ein bisschen weiter der Spanier, etc. –und es funktioniert.

Mir ist ein Beispiel in Erinnerung, wo in einem Schrebergarten Regeln für die gemeinsame Grillstelle entwickelt werden mussten, weil die einen Schweinefleisch
essen und die anderen nicht.

Es ist gerade die Unterschicht, von der die Mittelschicht behauptet, sie seien Rassisten, welche diese phantastische Integrationsleistung erbringt. Diese Leistung sollten wir besser erfassen und verstehen.

Nun werden die Flächen für Familiengärten laufend eingeschränkt, weil sie mittlerweile an guten Lagen liegen, wo man mit Immobilien mehr Rendite realisie-
ren könnte.

Genau dieses Thema ermöglichte vor zwei Jahren in Basel eine politische Allianz zwischen den Familiengärtnern und urban agriculture gegen die Pläne der rot-grünen Regierung BS, Familiengärten umzunutzen.

Wenn man davon ausgeht, dass die Schrebergärten vorher da waren, müsste sich urban agriculture eigentlich ihnen annähern und nicht umgekehrt. Geschieht dies
tatsächlich?

Da sind wir jetzt dran. Das ist unser grosses Anliegen. Als Kommunikationsglied dient die Stadtgärtnerei, welche die Oberaufsicht hat über die Familiengärten. Seit einiger
Zeit gibt es ökologische Auflagen. Die werden aber zu wenig durchgesetzt – vielleicht ist es auch nicht möglich. Es ist interessant, dass der Präsident des nationalen Dach-
verbandes der Familiengärtner der urban agriculture gegenüber sehr aufgeschlossen ist.

Urban agriculture hat eine wichtige Wurzel in der Allmend, dem gemeinsam verwalteten oder bewirtschafteten Boden. Das ist in den Familiengärten ganz anders. Die Menschen wollen einen kleinen Flecken Erde, auf dem sie die Autonomie leben können, die anderswo nicht möglich ist. Wie sieht nun die Vision einer Zusammenarbeit aus?

Ich denke, es beginnt mit der Anerkennung der grossen Leistung der Familiengärten auf der Allmend, die ja auch viel mehr produzieren als die urban agriculture. Dann
müssen wir mit den Vereinen ins Gespräch kommen, was vor zwei Jahren begonnen hat. Und drittens möchten wir sie an den Markt bringen. Wir haben im Rahmen
der Sozialen Ökonomie Basel ein Projekt «local food for local money» gestartet, mit dem die Produktion, welche über den Eigenbedarf hinausgeht, auf Märkten verkauft
werden kann.

 Sie haben gesagt, dass die urban agriculture auch von spontanen Aktivitäten geprägt ist. Reicht das für eine stabile Entwicklung?

Im Landhof, dem grössten Projekt der urban agriculture in Basel gibt es viele Treffen und «Parties» und alle finden es wunderbar. Wenn es aber um konkrete Arbeit geht, stellen wir ein Manko an Wissen, an Arbeitswillen und an Zuverlässigkeit fest.

Werden die «Partygänger» nicht langsam angesteckt von der konkreten Arbeit?

Nein, bis jetzt leider nicht genug. Wir fragen uns, wie wir damit umgehen sollen. Wir richten nun eine Wandergärtnerin ein, welche die verschiedenen Projekte besucht, dort anleitet und auch für Verbreitung von Fachwissen und Verbindlichkeit sorgt.

Solche Gemeinschaften entstehen also nicht spontan, sondern erfordern Moderation?

Die Koordinations- und Animationsleistung muss von uns aus kommen. Wenn wir uns zurückziehen, geht die Leistung nicht kontinuierlich genug weiter. Aber man
kann auch nicht ständig Animator spielen. Wir haben jetzt in einzelnen Gärten auch etwas weniger pflegeintensive Pflanzen angebaut.

Leute mit einem Garten arbeiten normalerweise freiwillig. Das ist bei einer Allmende offenbar nicht der Fall?

Es gibt einige Freiwillige, aber gemessen an den vielen Leuten, die zu den Anlässen kommen, noch zu wenige. Meine Erklärung ist: Es ist offensichtlich interessant, sich dort sympathisierend zu treffen. Das liegt auch an der Struktur des Landhofs, ein Projekt von Bewegten in einem Wohnquartier. Die Spontaneität reicht nicht für die Kontinuität, die ein Garten halt braucht. Aber es ist sozial höchst integrierend und entindividualisierend.

Gehen wir von den Gartengemeinschaften zu den Hausgemeinschaften, die ja wesentlich schwieriger zu realisieren sind, weil sie auch viel mehr Geld erfordern.

Die Soziale Ökonomie ist engagiert in der Gründung von Hausgemeinschaften, aber in der besonderen Form des Miethäuser-Syndikats.

Was ist der Unterschied zu einer Genossenschaft?

Diese Form vermittelt gleiche Rechte wie bei den üblichen Wohngenossenschaften aber mit mehr Flexibilität, Erweiterungs- und Anpassungsfähigkeit. Der ausserordentliche Erfolg mit dem Mietshäuser-Syndikat kann in Deutschland sehr gut nachvollzogen werden.

Was ist das für eine rechtliche Konstruktion?

Die Immobilien gehören dem Syndikat, eine Art Holding GmbH, welche die MieterInnen innehaben. Nach innen ist man in einzelne Häuser organisiert, die von den Bewohnern selber verwaltet werden. Man ist Mieter mit ausgesprochenem Kündigungsschutz. Das Prinzip des Syndikats ist in Freiburg i.Br. aus der Hausbesetzer-Szene entstanden und wird mittlerweile an über 80 Hausprojekten in Deutschland angewendet.

Trotz allem wird das Bedürfnis nach Gemeinschaft von der Immobilienwirtschaft nicht wahrgenommen. Kann man neue Wohnformen einfach dem Markt, dem Zufall
oder der individuellen Anstrengung überlassen?

Nein, das kann man nicht. Aber die Angebote des Marktes werden zum Teil auch nicht genutzt. Hier in der unmittelbaren Nachbarschaft wurde ein Haus für das Vor-Alterswohnen mit gewissen gemeinschaftlichen Einrichtungen umgebaut. Es fand keine Mieter. Die Liegenschaft wurde schliesslich im Stockwerkeigentum verkauft. Es ist also nicht so leicht, den Schlüssel zu finden.

Wir sind uns einig, dass man es nicht dem Markt überlassen kann. Wem dann?

Der Bewegung. Man muss sich das abringen.

Was für staatliche Rahmenbedingungen wünscht mansich dafür?

Wir gehen nicht zum Staat, sondern machen uns selber an die Arbeit. Ich bin natürlich für eine staatlich gut ausgebaute Sozialpolitik, aber ohne eigene Initiative geht es nicht.

Man hört immer wieder, die Not sei bei uns noch nicht gross genug, um den Wert des Gemeinschaftlichen zu erkennen, zum Beispiel einer alternativen Gemein-
schaftswährung, eines Gartens etc. Sie engagieren sich ja auch in anderen Ländern mit diesen Themen. Geht es uns tatsächlich noch zu gut?

Je grösser eine Krise, desto grösser ist die Tendenz zu Selbsthilfe auf genossenschaftlicher Basis, das ist eine historische Erfahrung in vielen Ländern, auch bei uns. Aber das Engagement kann dann auch wieder abnehmen. Wenn man z.B. nach Indien schaut, wo die Not viel grösser ist, dann stellt man fest, dass es nicht mehr gemeinschaftliches Engagement genossenschaftlicher Prägung gibt. Dort funktionieren die Familiensysteme besser als Krisenmanagement-Verbund. Und, obwohl es uns sehr gut geht, steigt bei uns das Engagement in sozialen Bewegungen für Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit.

Isidor Wallimann (1944) ist Emeritus Professor für Soziologie, Ökonomie und Sozialpolitik an der FHNW und Gastprofessor an der Syracuse University, USA.
Er ist Initiant der «Sozialen Ökonomie Basel» www.sozialeoekonomie.org , aus der auch www.urbanagriculturebasel.ch und die Alternativwährung «BonNetzBon» hervorgegangen sind. Zu seinen Veröffentlichungen gehören «Environmental Policy is Social Policy – Social Policy is Environmental Policy: Toward Sustainability Policy» (Springer-Verlag), und die auf Google aufgeschalteten Bücher
«Das Zeitalter der Knappheit» und «Sozialpolitik anders denken».

http://www.zeitpunkt.ch/fileadmin/download/ZP_131/10_Wiedergeburt_der_Gartenlauben_-Wallimann_131.pdf