Die verbaute Zukunft, Neubauviertel wie Filteranlagen für Menschen

Die Wohnungspreise sind hoch wie nie, die Qualität des Gebauten ist trübselig, Neubauviertel sehen aus wie Filteranlagen für Menschen. In Frankfurt zeigt sich, wie das Zivilisationsmodell Stadt versenkt wird, wenn die Politik nicht bald umdenkt. (von NIKLAS MAAK, FAZ, 31.1.2017)

Als sich die deutsch-britische Stadtsoziologin Ruth Glass 1964 mit der Wandlung des ehemaligen Londoner Arbeiterviertels Islington befasste, in das damals immer mehr Familien der Mittelschicht zogen, prägte sie einen Begriff, der seitdem wie eine Leuchtkugel durch städtebauliche und politische Grundsatzdebatten geistert: Gentrifizierung. Der Begriff wird erstmals 1888 nachgewiesen, er leitet sich von der Gentry ab, der typisch britischen Verbindung von niederem Adel und einem damals stark wachsenden Bürgertum. „Gentrifizierung“ meinte seit Ruth Glass aber vor allem einen Verdrängungsprozess: Das Bürgertum – Ärzte, Rechtsanwälte, Professoren – drängt in die ehemals populären Wohnviertel und treibt dort Miet- und Kaufpreise so in die Höhe, dass die einfachen Angestellten und die Arbeiter sie sich nicht mehr leisten können.

Auch in den vergangenen Wochen wurde mehrfach die „Gentrifizierung“ großer Teile Frankfurts beklagt – aber genau genommen haben die Preissteigerungen hier ein Ausmaß erreicht, das den Begriff „Gentrifizierung“ obsolet macht: Es werden nicht mehr nur Geringverdiener und Arbeiter vertrieben, Miet- und Kaufpreise haben ein Niveau erreicht, bei dem auch das klassische Bürgertum, die Gentry selbst, mit aus der Stadt gespült wird. Anders gesagt: Das, was die alte europäische Stadt ausmacht, kann sich so gut wie keine der Bevölkerungsgruppen, die das Leben in ihr einst prägte, mehr leisten.

Eine neue Eigentumswohnung hat laut einer Erhebung, die Frankfurts Planungsdezernent Mike Josef jetzt zusammen mit dem Gutachterausschuss für Immobilienwerte vorgelegt hat, im vergangenen Jahr im Schnitt fast 5000 Euro pro Quadratmeter gekostet, dreizehn Prozent mehr als noch ein Jahr zuvor. In den neuen Hochhäusern sind es mehr. Der Spitzenwert wurde bei einem Quadratmeterpreis von 18 000 Euro gemessen, im Schnitt sind es rund 7000 Euro. Und Hochhäuser stellen schon lange nicht mehr die luxuriöse Spitze des Marktes dar: Ein Drittel aller Neubauten in Frankfurt waren im vergangenen Jahr Hochhäuser.

Eintönigkeit als Fassadenprinzip: im Stadtteil Riedberg

Gleichzeitig fehlen 28 000 Sozialwohnungen, und obwohl die Stadtbevölkerung insgesamt massiv wächst, verlassen laut Josefs Erhebung jedes Jahr 50 000 Menschen Frankfurt in Richtung Umland, viele unter ihnen vor allem, weil sie sich die Stadt nicht mehr leisten können – die Hälfte, so Josef, habe in einer Befragung angegeben, dass sie gerne in Frankfurt geblieben wäre.

Damit ist ein dramatischer Punkt erreicht, die europäische Stadt als „Ort für alle“ am Ende – und dass die Zahlen, die in den vergangenen Tagen veröffentlicht wurden, keinen viel lauteren Aufschrei verursacht haben, ist nur durch die Zermürbung der Stadtbewohner zu erklären. Sie haben es offenbar als unvermeidliche Entwicklung des Spätkapitalismus hingenommen, in trostlosen Neubauvierteln zu hausen und die Hälfte des Familieneinkommens für eine Wohnung ausgeben zu müssen, die den Charme einer öffentlichen Bedürfnisanstalt mit angeschlossener Schlaf- und Kochgelegenheit hat.

Kauf- und Mietpreise haben in Frankfurt einen absoluten Höchststand, die ästhetische Qualität der Neubauten einen absoluten Tiefststand erreicht. Beides hängt zusammen: Wo die Nachfrage und die nervliche Zerrüttung der Wohnungssuchenden so groß sind wie in Frankfurt, kann man den Leuten fast alles anbieten, sie nehmen es zähneknirschend hin. Die Stadt wächst trotz Abwanderung unterm Strich jedes Jahr um 15 000 Einwohner – und die wissen nicht, wohin: Was gebaut wird, sind vor allem hochpreisige Immobilien. Im vergangenen Jahr wurden allein in Frankfurt Immobilien im Wert von 6,7 Milliarden Euro umgesetzt. Dieser Boom führt dazu, dass sich die Entwickler vieler neuer „Stadtquartiere“ nicht einmal mehr die Mühe machen, so zu tun, als ob eine Stadt für sie mehr wäre als ein begehbares Anlagedepot, in dem jede gestalterische Maßnahme allein der Profitmaximierung dient. Selten wurde liebloser gebaut, selten hemdsärmeliger auf jedes liebevolle Detail verzichtet, die „Eingänge“ sehen aus, als komme das Wort von „eingehen“. Viele Fassaden des neuen Europaviertels wirken wie eine Ausstellung für überdimensionierte Abluftgitter, die Foyers und Treppenhäuser von millionenteuren Apartments wie Fluchtwege und Notausgänge – und es ist alles ausverkauft.

Was tun, wenn man das Zivilisationsmodell Stadt retten will? Die Stadt will strengere Sozialquoten vorschreiben, Mike Josef verlangt unter anderem den Bau eines neuen Stadtteils. Das mag helfen, verhindert aber allein noch nicht die Misere. Denn wenn man sich die neuen Stadtteile anschaut, die im gutgemeinten Bemühen um „preiswerten Wohnraum“ errichtet werden, packt einen das kalte Grausen. Es sieht aus, als seien Nachkriegsreihenhäuser mit Wärmedämmputz ummantelt worden, davor steht ein Stahlbalkon, der aussieht wie das billigste Kellerregal von Ikea – fertig! Aber es sind keine renovierten Nachkriegsbauten. Es sind Entwürfe des Jahres 2017 – ohne Sockelgeschoss, ohne Läden, ohne Arbeitsmöglichkeiten, ohne Plätze, die den Namen verdienen. Es sind Schlafstädte, ach was, Schlafställe für den bürgerlichen Mittelstand.

Wohnhäuser im Frankfurter Europaviertel

Nachdem die Städte jahrzehntelang durch den unbesorgten Abverkauf öffentlicher Liegenschaften an meistbietende private Entwickler die Lage der Stadt ins Desaströse haben abgleiten lassen, werden nun ein paar kostengünstige Wohnhühnerställe nachgeliefert. Es ist, als wenn man mit der Fliegenklatsche einen Flächenbrand löschen will, und man bewundert den Mut der Politiker, beim Spatenstich solcher bauästhetischen Frechheiten auch noch salbungsvolle Sonntagsreden in die Mikrofone der erstaunten Presse hineinzusprechen. Man würde gern von den Planern und Erbauern dieser Niedrigenergie-Riegel, die auch Niedrigstästhetik-Riegel sind, wissen, ob sie selbst freiwillig auch nur eine Woche in derartigen Trübseligkeiten wohnen möchten. Wenn man sie aber fragt, lächeln sie milde und verweisen darauf, dass das Bauen nun mal teuer sei und man hier immerhin eine Nettokaltmiete von maximal zehn Euro pro Quadratmeter erreiche. In diesem Satz steckt ein zentraler Denkfehler. Ja, bauen ist teurer geworden, irgendwo muss gespart werden. Aber könnte man, statt einer Familie neunzig Quadratmeter für zehn Euro pro Quadratmeter in einem Billigstkartonbau anzubieten, sie zum gleichen Preis nicht auch in einer qualitätvolleren, gut geschnittenen, aber etwas kleineren Wohnung zum gleichen Gesamtpreis von 900 Euro unterbringen? Dann können es auch dreizehn oder vierzehn Euro pro Quadratmeter werden. Dass Wohnqualität eine Frage der Gestaltung und nicht der bewohnten Quadratmeter ist, zeigen die klassischen Wohnungen in Paris, New York oder Tokio. Der deutsche Quadratmeterfetischismus – der Glaube, Lebensqualität bemesse sich in persönlicher Flächenausdehnung – verhindert ein wirkliches Umdenken. Fast alles was gebaut wird, ist zu teuer – und verschwendet wertvolle Flächen durch schlechte Grundrisse.

Neben dem Kampf gegen den Quadratmeterfetischismus ist auch der gegen bestimmte Energiestandard-Verordnungen notwendig. Die vorherrschende Technik bei der Wärmedämmung ist, wie das Aussehen der neuen Billigriegel, schlimmstes Nachkriegsniveau. Es ist erstaunlich, dass das Einwickeln von Häusern mit zukünftigem Sondermüll wie Polystyrolplatten, Glasfasergewebe und schnell bröckelndem Putz allen Ernstes als ökologisch, fortschrittlich und alternativlos gilt.

Blick auf die Wohn- und Geschäftsgebäude an der Europa-Allee in Frankfurt.

Und warum muss, egal, wie billig das Haus auch aussieht, auch noch eine Tiefgarage her? Sogar in der geplanten Günstigst-Siedlung der Architekten Schneider + Schumacher in Oberrad soll es zweiunddreißig Stellplätze geben. Warum? Auch dieses Geld könnte man gut in die eigentliche Wohnarchitektur stecken – zumal dann, wenn man neue Viertel so baut, dass die Bewohner nicht mehr mit dem Auto zur Arbeit pendeln müssen. Doch es gibt Hoffnung. Man kann den Städtebaubeirat gar nicht genug loben für seine Intervention im Falle der geplanten Bebauung des Hilgenfelds nördlich des Frankfurter Bergs. Die dort geplante Dichte erscheine „angesichts der Notwendigkeit, Wohnraum auch für einkommensschwächere Bevölkerungsschichten zur Verfügung zu stellen, nicht ausreichend“, heißt es da. Das ist höfliche Bürokratensprache für: Seid ihr des Wahnsinns, eine Vorstadt-Zersiedlungsdichte dort vorzusehen, wo sechsgeschossige Stadthäuser gebaut werden müssten, damit mehr Bewohner kommen, und Läden und Plätze, auf denen man wirklich seine Zeit verbringen will und die mehr sind als zugige Durchgangsräume im schrillen Urbano-Freiflächendesign?

Eine Stadt ist immer dann lebenswert, wenn sich in ihr die verschiedensten Gruppen, Interessen, Bevölkerungschichten, Tätigkeiten mischen. Ein Grundproblem der neuen Retortenstädte ist, dass sie oft von einem Hauptinvestor hochgezogen werden. Oft sichern sich Entwickler bis zu neunzig Prozent eines Frankfurter Bauareals. Die Berliner CG-Gruppe hat den gesamten Telekom-Komplex in der Nähe des Ostbahnhofs gekauft und will jetzt auf den 35 000 Quadratmetern etwa vierhundert Wohnungen, Büros und Geschäfte und 250 Stellplätze bauen. Auf dem Gelände der früheren Oberpostdirektion im Frankfurter Westend will die gleiche Gruppe noch einmal 450 Wohnungen schaffen – „zum größten Teil für eine wohlhabende Klientel“, wie es sibyllinisch heißt. Solche Entwicklungen sind kein Naturgesetz, sondern Ergebnis politischer Entscheidungen. Man kann Investoren wie der CG-Gruppe kaum ihre ökonomischen Interessen vorwerfen – wohl aber der Politik, dass sie diese nicht besser kanalisiert.

Dass auf den verfügbaren Flächen nicht entschlossener parzelliert, dass das „Bauland“, wie ein alter Slogan der Stadtsoziologie lautet, nicht „in Bürgerhand“ gegeben und mehr Fläche für kollektive und genossenschaftliche Projekte ausgeschrieben wird, führt eben am Ende auch immer wieder zu monotonen Schlafriegelstädten mit ein paar Alibi-Spielplätzen.

Dabei hat gerade Frankfurt so viele Flächen und Viertel, die nachverdichtet werden könnten – nicht nur das Hilgenfeld nördlich des Frankfurter Bergs, sondern auch die monotonen Großsiedlungen in Niederrad oder Griesheim, in denen man Tausende von Wohnungen, Läden, Büros und Werkstätten für Berufsanfänger bauen und so die Siedlungen zu echten Stadtteilen machen könnte. Dafür müssten Verordnungen und Regeln verändert werden – was neuerdings möglich ist.

Die Kommunen können Neubau- und Verdichtungsareale seit kurzem als „urbane Gebiete“ ausweisen und so Wohnen und Gewerbe viel intensiver zusammenzubringen, wie es auch der Städtebaubeirat fordert. Wenn sie das tun, könnte es wirklich zu einer Wende und sogar zur Blüte einer neuen Stadtbaupolitik kommen. Die Lokalpolitik ist im Jahr 2017 viel weniger, als es oft behauptet wird, das Opfer eines Marktes, der alles diktiert. Sie kann viel besser als früher eine Idee dessen vorgeben, was Stadt ist, und Regeln, nach denen gebaut wird. Investoren und Bauindustrie werden, manchmal gern, manchmal zähneknirschend, mitmachen – wo doch so viel Geld zu verdienen ist mit dem Wohnen in der Stadt. NIKLAS MAAK

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