„Die Menschen in Bewegung setzen“

Jan Gehl im Interview

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Jan Gehl ist der Mann hinter dem Boom seiner Heimatstadt Kopenhagen, dem Umbau Moskaus und der Wiederbelebung Manhattans. Früher wurde er belächelt. Heute gilt er als einer der einflussreichsten Stadtplaner der Welt. Dabei stellt er nur eine einfache Frage: Wie wollen wir eigentlich leben?

• Ein Konferenzraum nahe des Kopenhagener Hauptbahnhofs. An den Wänden zahllose gerahmte Urkunden, eine Auszeichnung des schwedischen Königs und persönliche Dankesbriefe von Jane Jacobs, der großen Stadttheoretikerin. Vor der Tür ein Atelier, das eher wie eine Studenten-WG anmutet und nicht wie eines der weltweit renommiertesten Stadtplanungsbüros.

Der Hausherr trägt ein schwarzes Poloshirt, eine randlose Brille und in seiner Hosentasche eine Digitalkamera, mit der er unterwegs alles fotografiert, was ihm an urbanem Leben vor die Linse kommt. Jan Gehl ist ein ebenso rastloser wie stiller Star. Mit seinen 35 Mitarbeitern berät der 78-Jährige so unterschiedliche Städte wie Schanghai, New York, Almaty (Kasachstan), Singapur und St. Petersburg. Die Frage seiner Kunden jedoch ist immer die gleiche: Wie kriegen wir mehr Leben in unsere Stadt?

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Herr Gehl, woran erkennt man die Lebensqualität einer Stadt?

Jan Gehl: Es gibt einen sehr simplen Anhaltspunkt. Schauen Sie, wie viele Kinder und alte Menschen auf Straßen und Plätzen unterwegs sind. Das ist ein ziemlich zuverlässiger Indikator. Eine Stadt ist nach meiner Definition dann lebenswert, wenn sie das menschliche Maß respektiert. Wenn sie also nicht im Tempo des Automobils, sondern in jenem der Fußgänger und Fahrradfahrer tickt. Wenn sich auf ihren überschaubaren Plätze und Gassen wieder Menschen begegnen können. Darin besteht schließlich die Idee einer Stadt.

Warum sind ausgerechnet Kinder und Senioren Indikatoren?

In Hanoi traf ich kürzlich eine Vietnamesin, die gerade aus Dänemark zurückgekehrt war. „Wie ist es bei Ihnen eigentlich zu diesem Babyboom gekommen?“, wollte sie von mir wissen. „Überall in Kopenhagen sieht man Eltern mit Kinderwagen und selbst Fünfjährige auf dem Fahrrad.“ Dabei haben wir überhaupt keinen Babyboom, ganz im Gegenteil. Aber Kopenhagen ist so sicher, dass wir unsere Kinder auf die Straße schicken. Gleiches gilt für die Älteren, von denen es, wie Sie wissen, immer mehr gibt. In Hanoi wäre es für sie auf den Straßen viel zu gefährlich.

Was müssen Architekten und Stadtplaner tun, um die Menschen wieder auf die Straßen zu bringen?

Sie sollten ihre Häuser und Städte für Menschen planen.

Wir dachten immer, das täten sie bereits.

Falsch. Die meisten neuen Gebäude und Stadtviertel ignorieren den menschlichen Maßstab, was Sie an ihren aufgeblähten Dimensionen ablesen können: Gebäude, Straßen und Plätze werden immer größer. Jene, die sie benutzen, die sie schätzen und die sich in ihnen wohlfühlen sollen – also wir –, sind aber immer noch genauso klein wie seit eh und je. Auf diese Weise entstehen Städte, die einem permanent zuraunen: „Geh nach Hause, mein Freund, so schnell du kannst, und schließ die Tür hinter dir.“ Und das hat Folgen.

Welche?

Die Stadtplanung der vergangenen fünf Jahrzehnte hat Zigtausende Menschenleben gekostet, weil sie einseitig auf motorisierten Verkehr ausgerichtet war und die Menschen in einem Zustand permanenter Bewegungslosigkeit hält. Heute ist mehr als ein Drittel der US-Amerikaner übergewichtig, zusammen mit Bewegungsmangel gilt dies als wirksamerer Killer als Tabak. Städte hingegen, die ihre Bewohner in Bewegung setzen, betreiben ganz nebenbei die billigste Gesundheitspolitik. Wer regelmäßig 10 000 Schritte am Tag geht oder sich anderweitig sportlich betätigt, darf im Schnitt auf sieben zusätzliche Lebensjahre hoffen.

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Gehl nestelt in seiner Hosentasche und zieht einen Schrittzähler hervor. Bisher, murmelt er unzufrieden mit Blick aufs Display, habe er es an diesem Tag erst auf 2549 Schritte gebracht. Aber ihm blieben ja auch noch ein paar Stunden. Er lässt das Gerät wieder in der Tasche verschwinden.

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Warum werden Großstädte Ihrer Meinung nach heute so an den Menschen vorbeigebaut?

Jan Gehl: Weil die Stadtplanung im vergangenen halben Jahrhundert von zwei mächtigen Paradigmen dominiert wurde: dem der modernistischen Architektur mit frei stehenden Hochhäusern, öden Grünflächen und weiten Wegen von A nach B – und dem des Automobilverkehrs. Früher war das ganz anders. Über Jahrhunderte wuchsen Städte in einem langsamen, kontinuierlichen Prozess. Jeder war zu Fuß auf der Straße und im gleichen 5 km /h-Tempo unterwegs, die Wege waren überschaubar und die Straßen schmal und abwechslungsreich. Mit dem Wirtschaftswunder änderte sich das radikal. Autos eroberten unsere Straßen, das Durchschnittstempo beschleunigte sich auf 60 km /h, aus Stadt- wurde Verkehrsplanung. Niemand machte sich Gedanken über die Konsequenzen des Modernismus. Heute wissen wir: Um das Leben in einer Stadt zu ersticken, gibt es keine effizienteren Mittel als Autos und Wolkenkratzer.

Angesichts der ungebrochenen Popularität urbanen Lebens bleibt Planern doch gar nichts anderes übrig, als dicht und hoch zu bauen. In der Acht-Millionen-Metropole London beispielsweise entsteht derzeit eine ganze Phalanx von Hochhäusern.

Wussten Sie, dass Barcelona in Teilen eine höhere Bevölkerungsdichte aufweist als die Wolkenkratzermetropole Manhattan? Auch Paris und Venedig sind extrem dicht bevölkert, aber dennoch wunderbar lebenswerte Städte. Warum? Weil ihre Architekten Dichte auf intelligentere Weise geschaffen haben als durch schlichtes Übereinanderstapeln von Etagen. Hochhäuser sind des faulen Architekten Antwort auf die Frage nach Dichte.

Was spricht gegen gut gemachte Hochhäuser?

Unter anderem unser menschliches Navigationssystem. In den ersten vier bis fünf Stockwerken eines Hochhauses fühlen wir uns noch als Teil der Stadt, darüber hinaus werden wir zu einem abgehobenen Teil des Flugverkehrs. Auch für die urbane Textur sind Hochhäuser mit ihren extremen Fallwinden und abweisenden Fassaden häufig schädlich.

Viele Städte versuchen heute mit spektakulären Wahrzeichen zu punkten. Sie haben die Bauten von sogenannten Signature Architects wie Rem Koolhaas, Frank Gehry oder Norman Foster als „Vogelkot-Architektur“ bezeichnet. Warum?

Weil das, was Star-Architekten über Städten abwerfen, am Boden häufig ziemlich beschissen aussieht. Viele Planer glauben, bei Architektur gehe es vor allem um die Form. In Wirklichkeit aber geht es um die Interaktion von Form und Leben, also um die Dinge, die sich zwischen Häusern abspielen. Dieses Leben zwischen den Häusern ist zugegebenermaßen komplizierter zu planen als irgendein vermeintlich großartiges Stück Architektur. Was auch der Grund ist, weshalb es so selten versucht wird.

Ihre Kollegenschelte fällt ziemlich deftig aus.

Als junger Architekt war ich fasziniert von der Grandezza großer Bauwerke. Einer meiner Stars war Oscar Niemeyer mit seinen spektakulären Entwürfen für Brasiliens neue Hauptstadt Brasília. Dann aber verliebte ich mich in meine spätere Frau, eine Psychologin, die mir eine ganz einfache Frage stellte: Was macht eure Architektur eigentlich mit den Menschen, die später in ihr und um sie herum leben müssen?

Wie lautete Ihre Antwort?

Ich hatte keine. Und wie sich herausstellte, wussten meine Kollegen auch keine. Es dachte einfach niemand über die Konsequenzen unserer Arbeit nach.

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Jan Gehl war damals Absolvent der Hochschule für Architektur und seine Heimatstadt eine, die sich willig dem Autoverkehr ergab. Auf Schwarz-Weiß-Fotos, die Gehl ausbreitet, sind Straßen und Plätze voller Autos zu sehen. Fußgänger wirken wie Statisten, die sich zwischen Autos durchdrängeln. Was bedeutet das für das Leben einer Stadt? 40 Jahre lang erforschte Gehl an der Kopenhagener Universität das Zusammenspiel von Architektur und Lebensqualität in Metropolen. Er befragte Passanten und Anwohner nach ihren Wegen und Lieblingsplätzen. Stoppte die Zeit, die sich Fußgänger auf Plätzen aufhielten. Untersuchte mit seinen Studenten selbst Details wie den Zusammenhang von Fassadengestaltung und Aufenthaltsqualität einer Straße. „Niemand hat die Formenlehre und die Nutzung des öffentlichen Raums so gründlich untersucht wie Jan Gehl“, sagt der Architekt Richard Rogers heute. Damals wurde die Arbeit des Universitätsprofessors unter Kollegen erst ignoriert, dann belächelt. Die Kopenhagener Stadtverwaltung aber setzte seine Forschungsergebnisse konsequent um – mit ungeahnten Folgen.

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Warum ist Ihr Thema heute en vogue?

Jan Gehl: Weil Städte heutzutage nicht mehr mit den breitesten Straßen, der größeren Zahl an Parkplätzen oder dem billigeren Land um Kapital und Köpfe konkurrieren, sondern mit Lebensqualität. Investoren, Unternehmen, Großereignisse und Menschen im Allgemeinen zieht es in unserer globalisierten, transparenten Welt tendenziell in die lebenswerteren Städte. Wer es da wie Kopenhagen schafft, dreimal zur lebenswertesten Stadt des Planeten gewählt zu werden, hat einen enormen ökonomischen Vorteil. Eine weitere Ursache ist natürlich die historische Komponente.

Welche meinen Sie?

Wir im Westen sind an einem Punkt unserer ökonomischen Entwicklung angelangt, an dem wir fast alle ein Dach über dem Kopf, mindestens ein Auto und immer mehr Freizeit zur Verfügung haben. Da fragt man sich irgendwann ganz automatisch: Ist das jetzt der Sinn des Lebens? Und sieht so der Ort aus, an dem ich den Rest meines Lebens verbringen möchte?

In den boomenden Megacitys Asiens sieht man das anders.

Es scheint, als würden sich in Asien unsere Fehler wiederholen. Der vietnamesische Planungsminister hat mir kürzlich sinngemäß erklärt: Erst sind wir Fahrrad gefahren, dann Mofa. Heute haben wir endlich Autos und sind sehr stolz darauf. Wir müssen jetzt erst einmal eine Zeit lang Auto fahren, bevor wir darüber nachdenken können, zum Fahrrad zurückzukehren.

Was lernen wir daraus?

Dass es unmöglich scheint, eine Periode des Wahnsinns einfach zu überspringen.

Wie sieht Ihre Beratung von Kommunalpolitikern konkret aus?

Wir untersuchen, wie eine Metropole von ihren Bewohnern genutzt wird. Auf dieser Basis entwickeln wir eine Reihe von Vorschlägen, wie sich ihre Lebensqualität spürbar verbessern ließe. Meist können Städte bereits mit wenigen Maßnahmen sehr viel erreichen. Gescheitert sind wir bislang nur an London: zu viel Bürokratie, zu wenig echter Wille.

Mal angenommen, ich säße als Bürgermeister einer autoverpesteten Millionenmetropole vor Ihnen. Was rieten Sie mir?

Ich würde zwei Grunderfahrungen der Stadtplanung mit Ihnen teilen. Die erste ist eine mittlerweile vielfach belegte Erkenntnis: Erst formen wir unsere Städte, dann formen sie uns. Zweitens: Mehr und breitere Straßen führen zwangsläufig zu mehr Autoverkehr in der Stadt. Weniger Straßen und weniger Parkplätze hingegen schaffen Platz für Radfahrer, Fußgänger, Cafés und Plätze, kurz: das Leben. Darum sollten Sie sich kümmern.

Funktioniert das wirklich so einfach?

Es lässt sich nachweisen. In San Francisco zerstörte vor zweieinhalb Jahrzehnten ein Erdbeben den Embarcadero Freeway, eine der Hauptverkehrsadern. Theoretisch hätte daraufhin Chaos ausbrechen müssen. Praktisch aber haben sich Pendler und Einwohner binnen kurzer Zeit andere Wege in die Stadt gesucht, so wie Wasser, wenn ein Erdrutsch seinen alten Flusslauf versperrt. Heute ist der Embarcadero ein Boulevard mit Trolley-Bussen, Bäumen und viel Platz für Spaziergänger und Radfahrer.

Wo aber eine Stadtplanung den Autofahrern Platz wegnimmt, muss sie sich auf gewaltige Proteste gefasst machen.

Deswegen sollte sie behutsam vorgehen. Hier in Kopenhagen hat die Stadtplanung kontinuierlich Jahr für Jahr zwei bis drei Prozent der Parkplatzflächen gestrichen. Auf diese Weise eroberten Radler und Fußgänger die Stadt nicht in einem einzigen brutalen Handstreich, sondern in vielen Trippelschritten. Dies war ein wesentlicher Grund für unseren Erfolg. Denn auf diese Weise war der Umbau zwar stets spürbar, aber nie schmerzhaft.

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Der Umbau Kopenhagens begann im November 1962, als auf Jan Gehls Anregung die erste Straße der Kopenhagener Innenstadt für den Autoverkehr gesperrt wurde. Damals protestierten noch Ladenbesitzer, weil sie herbe Umsatzeinbußen fürchteten. Tatsächlich aber florierten ihre Geschäfte, sodass in den Jahren danach Dutzende weiterer Straßen und Plätze folgten, die Kopenhagen entweder komplett oder teilweise seinen Fußgängern und Radfahrern zurückgab. Die Stadt verbreiterte die Fußwege und schuf bis heute rund 1000 Kilometer Radwege im Großraum Kopenhagen, von denen viele so breit sind, dass selbst die dort so populären Lastenfahrräder bequem zu zweit nebeneinander hergleiten können. Heute ist Kopenhagen neben Amsterdam eine der radfahrerfreundlichsten Metropolen der Welt. Jede U-Bahn und jeder Zug nimmt kostenlos Fahrräder mit, und ohne den obligatorischen Fahrradträger am Wagen erhält kein Kopenhagener Taxifahrer eine Lizenz.

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Das neue Kopenhagen hat neue Probleme. An manchen Kreuzungen brauchen Radler zur Hauptverkehrszeit mitunter drei Ampelphasen, um über die Straße zu kommen. Und in den populären Fußgängerzonen explodieren die Mieten.

Jan Gehl: Natürlich sind wir gewissermaßen Opfer unseres eigenen Erfolgs. Unsere Fußgängerstraßen ziehen mittlerweile so viele Menschen an, dass die Ladenmieten rasant steigen. Meine Antwort auf dieses Problem lautet: Dann baut eben mehr von ihnen.

Das ist aber kein Allheilmittel. In vielen deutschen Innenstädten wurden schon in den Siebzigerjahren Fußgängerzonen eingezogen, die heute trostlos und verlassen sind. Warum?

Weil die Idee eine andere war. Damals wurden viele Stadtzentren zu Fußgängerzonen umgebaut, weil man Innenstädte in attraktivere Einkaufsmeilen verwandeln wollte. Gleichzeitig aber hat man draußen auf der grünen Wiese Shopping Malls zugelassen. Was ist passiert? Die Leute sind zum Einkaufen in die Shopping Malls und großen Supermärkte gefahren, heute erledigen sie ihre Einkäufe im World Wide Web. Der kleine Juwelier, der Schuhmacher und das Haushaltswarengeschäft sind damit für immer aus den Innenstädten verschwunden. Unsere Städte aber brauchen ein Herz und Händler, die es am Schlagen und seine Gebäude instand halten.

Was also tun?

Wahrscheinlich müssen wir unsere Innenstädte ganz neu denken. Warum stellen wir sie nicht Sportvereinen, Musikclubs oder Bürgerinitiativen zur Verfügung, die bislang wegen hoher Mieten nie dort zu finden waren? Aus unseren Befragungen in Kopenhagen wissen wir, dass ohnehin nur etwa 40 Prozent der Leute primär zum Shoppen in die Innenstadt kommen. Die Mehrheit der Menschen ist hier, weil sie andere Menschen treffen und etwas erleben wollen.

Dabei bräuchte in Zeiten von Facebook niemand mehr ein Café, um andere zu treffen.

Stimmt. Interessanterweise stieg aber gerade in den vergangenen 20 Jahren das Interesse an öffentlichen Orten. Kaum jemand sitzt gern irgendwo in der Vorstadt zwölf Stunden pro Tag einsam vor dem Computer. Das erklärt auch unseren stetig wachsenden Durst nach Cappuccino. Wer einfach so auf einer Bank sitzt und den Leuten hinterherschaut, wird irgendwann komisch angeschaut. Mit einem Cappuccino vor sich ist das ganz anders.

Lässt sich Lebensqualität wirklich so einfach schaffen: Man ersetzt Parkbuchten und Fahrbahnen durch Radwege, Plätze und Cafés, und der Rest ergibt von selbst?

Natürlich nicht. Das Leben in einer Stadt ist ein komplexer und sich selbst verstärkender Prozess. An einem bestimmten Ort passiert etwas, was wiederum zu noch mehr Aktivitäten führt, und so weiter. Manchmal beginnt es mit einem Gemüsehändler, der seine Obstkisten nach draußen räumt, es kommen Kinder, die auf dem Gehweg spielen, irgendjemand pflanzt ein Beet, und so geht es weiter. Unsere Studien zeigen, dass Menschen dorthin gehen, wo andere Menschen sind. Das ist banal, aber entscheidend für das Funktionieren einer Stadt.

Der Stadtumbau ist teuer und langwierig. Kopenhagen brauchte 40 Jahre bis zur lebenswertesten Metropole der Welt.

Wirklich teuer sind Infrastrukturmaßnahmen wie Schulen, Universitäten, Bibliotheken und U-Bahn-Linien. Im Vergleich dazu kosten Fuß- und Radwege oder Plätze fast gar nichts. Hier kann die Stadt jedes Jahr ein bisschen mehr tun, und jeder kann ihre Fortschritte sofort sehen und nutzen. Das lohnt sich, auch finanziell. Aus unseren Studien wissen wir, dass Kopenhagen heute von jedem in der Stadt geradelten Kilometer netto 23 Cent profitiert. Ein mit dem Auto gefahrener Kilometer hingegen kostet uns unterm Strich 16 Cent.

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Tatsächlich zählt Kopenhagens Innenstadt heute viermal so viele Besucher wie vor 40 Jahren. Sämtliche 18 Plätze der Innenstadt sind autofrei, 37 Prozent der Kopenhagener sind mit dem Fahrrad in der Stadt unterwegs, weitere 38 Prozent kommen zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Fast täglich kommen Delegationen aus aller Welt nach Kopenhagen, die von dem Modell lernen wollen. Beratungsunternehmen wie Copenhagenize Consulting haben sich darauf spezialisiert, das Konzept Kopenhagen zu exportieren.

Mit dem Renommee der Metropole wuchs gleichzeitig auch jenes ihres Vordenkers. Als ihn die Universität Kopenhagen vor 15 Jahren emeritierte, eröffnete Gehl sein eigenes Architekturbüro, das seither wächst und gerade Dependancen in San Francisco und New York eröffnet. In den Kinos lief im vergangenen Jahr der Film „The Human Scale“ über seine Ideen. Gehls neuestes Buch „Städte für Menschen“, das bereits in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt worden ist, wird im Januar auch auf Deutsch erscheinen. Ein später Triumph.

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Wieso beraten Sie keine deutsche Stadt?

Jan Gehl: Keine Ahnung. Vielleicht ist es so ein Kleiner-großer-Nachbar-Ding zwischen euch Deutschen und uns Dänen. Vielleicht liegt es auch daran, dass es 40 Jahre gedauert hat, bis mein erstes Buch ins Deutsche übersetzt wurde. Und meine Bücher sind immer die Türöffner für meine Arbeit gewesen.

Nachdem Sie fast Ihr gesamtes Leben in Ihrer Geburtsstadt verbracht haben: Welche Stadt wäre Ihre zweite Wahl?

Melbourne. Atmosphärisch ist Melbourne ähnlich attraktiv wie Paris, aber mit besserem Wetter. Kopenhagen jedoch ist für mich unschlagbar.

Warum?

Weil ich weiß, dass sich meine Heimatstadt jeden Tag ein Stückchen verbessert. Als meine Frau und ich vor einiger Zeit unseren 45. Hochzeitstag feierten, sind wir die 20 Kilometer von unserem Haus zum Restaurant quer durch die Stadt geradelt. Wir haben nicht groß darüber nachgedacht. Damals jedoch, als wir heirateten, wären wir auf dem Rad nicht lebend durch Kopenhagen gekommen. Dieser Wandel, den meine Stadt seither geschafft hat, bedeutet für Zigtausende eine Verbesserung ihrer Lebensqualität. Mal abgesehen von dem nicht zu unterschätzenden Vorteil, dass ich mir als Radfahrer ein Glas Rotwein mehr erlauben kann. —

Interview: Harald Willenbrock

gefunden auf: INFAMY, Montag, 5. Januar 2015, von Bagger,

Source: http://www.brandeins.de/archiv/2014/genuss/jan-gehl-im-interview-die-menschen-in-bewegung-setzen/