Das Sozialkapital in der Schweiz: Der helvetische Kitt

von Daniel Brühlmeier 15.7.2014, 05:30 Uhr, NZZ Online / Quelle: http://www.nzz.ch/schweiz/politische-literatur/der-helvetische-kitt-1.18343513

Als Max Weber am ersten Deutschen Soziologentag von 1910 ein Plädoyer für sein Fach hielt, skizzierte er auch eine «Soziologie des Vereinswesens im weitesten Sinne des Wortes». Dieses Vorhaben sollte aber erst im letzten Quartal des 20. Jahrhunderts in der sogenannten Sozialkapitalforschung seine wissenschaftliche Heimat zwischen Politikwissenschaft und Soziologie finden. In der Schweiz ist dieser Forschungszweig vor allem mit einem Namen verbunden: Markus Freitag. Der an der Universität Bern lehrende Politikwissenschafter hat, unterstützt von einigen Mitarbeitenden, eine exzellente Bilanz seiner zehnjährigen Arbeit zum sozialen Kapital in der Schweiz vorgelegt.

Sein theoretisch überzeugendes Konzept des Sozialkapitals beruht auf drei Säulen: den sozialen Netzwerken wie Vereinen oder familiären und kollegialen Kontakten, dem Vertrauen als Grundlage dauerhafter Kooperation und gegenseitiger Hilfe und schliesslich den gemeinschaftsbezogenen Normen und Werten wie Reziprozität und Toleranz. Die Stärke von Freitags Forschung besteht darin, dass er seine Analyse auf umfangreiche Bevölkerungsbefragungen stützt und so seine Befunde empirisch erhärten und international vergleichen kann. Gleichzeitig präsentiert er die Ergebnisse in einem verständlichen Stil.

Was sind nun die Befunde für die Schweiz? Es bestehen ernsthafte Anzeichen eines Niedergangs der schweizerischen Zivilgesellschaft, insbesondere was die Einbindung von jungen Erwachsenen in Vereinen seit den 1970er Jahren anbelangt. So hat sich der Anteil der 20- bis 39-Jährigen in den Vereinen von damals bis heute halbiert. Anfang des 21. Jahrhunderts hat sich der Rückgang allerdings stabilisiert. Überdies ist die Entwicklung nach Art der Vereine zu differenzieren: Sportvereine stehen besser da als Interessenverbände, politische Parteien oder die Pfadi, die mit rückläufigen Zahlen konfrontiert sind.

Was das soziale Miteinander anbelangt, ist hingegen kein genereller Niedergang festzustellen: Der soziale Kitt im Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis scheint unvermindert vorhanden zu sein. Auch das Vertrauen in die Mitmenschen ist beständig, notabene auch unter der Bedingung (oft beklagter) verstärkter Zuwanderung. Allerdings ist die lokale Ebene nur ungenügend erforscht. Faktoren des Niedergangs sind oft Kollateralschäden eines schleichenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels – wie zum Beispiel der Verlust an Kontakt- und Begegnungsstätten (Bahnhof, Post, Dorfladen und Dorfbeiz) oder die wachsende Erwerbstätigkeit und Bildungsnachfrage bei den Frauen, die im Vergleich zu früher im dörflichen Beziehungsgeflecht fehlen. Schliesslich, so führt Freitag etwas drastisch aus, legten «soziale Medien und Verkabelung dem sozialen Austausch von Angesicht zu Angesicht im Dorf die Schlinge um den Hals».

Komplex sind die demokratiepolitischen Ergebnisse. Während tolerante kantonale Gesellschaften höhere Stimmbeteiligungen aufweisen, haben andere Sozialkapitalkomponenten wie das intensiv gelebte Miteinander im nahen Familien- und Freundeskreis einen eher negativen Einfluss darauf. Das Buch weist folglich auch auf die Schattenseiten des Sozialkapitals hin: die Gruppenkonkurrenz sowie der Ausschluss Aussenstehender beziehungsweise die Bevorzugung von Gruppenmitgliedern («Vitamin B»), dann aber auch der Konformitätsdruck, der gerade von aktiven sozialen Gruppen ausgeht.

Miliz und Gemeinsinn

Insgesamt stellt Markus Freitag der Schweiz bezüglich Nutzung und Aufbau von Sozialkapital ein nach wie vor gutes Zeugnis aus. Es sind immer noch knapp zwei Drittel der Bevölkerung in Vereinen eingebunden, zwischen 20 und 25 Prozent üben eine unbezahlte Tätigkeit zugunsten Dritter aus. Aber Obacht: Die Lektüre des Buches zeigt eindrücklich, dass es hier staatspolitisch um die Grundlagen der helvetischen Werte Miliz und Gemeinsinn geht. Diese gilt es zu bewahren.

Markus Freitag (Hg.): Das soziale Kapital der Schweiz.